Wo geht’s hier lang?

Wenn ein Motorrad-WM-Pilot auf eine neue, für ihn unbekannte Rennstrecke kommt, dann ist das eine delikate Entdeckungsreise. Brad Binder aus dem Red Bull KTM Ajo Moto3 Team schildert, wie er diese Aufgabe angeht.

Sachsenring, der deutsche Motorrad-Grand Prix, es ist Donnerstagnachmittag, noch schweigen die Motoren. Brad Binder sitzt in der Box des Ajo-Teams und sucht eine Antwort auf die Frage, welche Grand Prix-Strecke für ihn am schwierigsten zu lernen war.

Brad Binder Sachsenring 2015

Brad Binder Sachsenring 2015

„Vielleicht Silverstone“, sagt er. „Weil es dort so viele Kurven gibt.“ Er wirft einen fragenden Blick rüber zu Teamkollege Karel Hanika, der neben ihm Platz genommen hat. Hanika hat einen anderen Vorschlag: Malaysia. „Oh, stimmt!“, ruft Binder. „Malaysia war hart.“

Dann erzählt Binder, wie er 2011 das erste Mal auf diesem Kurs nahe Kuala Lumpur fuhr – und im ersten Training acht Sekunden auf die Bestzeit verlor. Acht Sekunden. Eine Ewigkeit. Mit jeder Trainingssitzung lief es zwar ein bisschen besser und im Rennen, zwei Tage später, fehlten ihm noch etwas mehr als drei Sekunden auf die besten Rundenzeiten. Aber Binder war erstmal bedient. Was Malaysia so schwierig macht? „Es ist die enorme Breite dieser Strecke. Sehr schwer, dort die richtige Linie zu finden.“ Schmalere Strecken seien einfacher zu lernen, findet er. Assen beispielsweise.

Motorrad-WM-Piloten und ihre Orientierungsschwierigkeiten, wenn sie auf eine neue Rennstrecke kommen: Da hat jeder seine Story parat. Wie aber gehen GP-Piloten einen neuen Kurs an? Wie bereiten sie sich vor? Zunächst heißt es: Brav die Hausaufgaben erledigen. „Ich schaue mir Videos von früheren Rennen an“, sagt Binder. So sieht er, dass seine Kollegen damals beispielsweise vor Kurve 5 beim 100-Meter-Schild bremsten. Erste Hinweise, erste Anhaltspunkte. Dann setzt sich Binder vor die Spielekonsole. MotoGP auf PlayStation – unverzichtbar. 2012, in seiner ersten vollen WM-Saison, erzählt Binder, habe er häufig die PlayStation bemüht.

Sachsenring 2015

Sachsenring 2015

Wenn Binder am Mittwoch vor einem Grand Prix an der Strecke eintrifft, steht das Studium der Datenaufzeichnungen an. Bremspunkte, Bremsintensität, Gänge: alles was einst das Data-Recording bei den Teamkollegen erfasst hat, wird analysiert.

Tags darauf, donnerstags, folgt die Streckenerkundung. Nicht zu Fuß, Binder bevorzugt den Motorroller. Nur bei den Übersee-Rennen, zu denen üblicherweise die Moto3-Teams ihre Scooter nicht mitnehmen, muss auch Binder zu Fuß gehen. Binder arbeitet sich von Kurve zu Kurve. Er registriert, dass er in der Spitzkehre die Randsteine meiden sollte, denn die sind hoch. Und dass die Zielkurve zu macht, also am Ausgang enger wird. All diese Eindrücke speichert er ab, auf seiner Festplatte im Kopf, so dass er sie später auf der Moto3-KTM wieder abrufen kann.

Brad Binder Sachsenring 2015

Brad Binder Sachsenring 2015

Freitag früh, das erste Training, die Stunde der Wahrheit. Nach Video, PlayStation, Datenanalyse und Streckenbesichtigung ist das nun der Abgleich der Theorie mit der Realität. Binder sagt, bereits die ersten zwei oder drei Runden zeigten, ob sich all die im Vorfeld theoretisch erworbenen Erkenntnisse bestätigen. Oder ob beispielsweise der Randstein in der Spitzkehre sehr wohl ein Überfahren zulässt.

Üblicherweise tüftelt ein Motorrad-WM-Pilot bereits während des ersten freien Trainings an der Fahrwerksabstimmung. Doch auf einer neuen Strecke, auf der der Pilot zunächst Sekunden pro Runde verliert, erübrigt sich das Spiel mit Dämpfer-Einstellungen und anderen Feinheiten. Solange der Pilot nicht annähernd das Limit ausgelotet hat, solange macht die Set-Up-Arbeit keinen Sinn. Aber spätestens nach dem zweiten Freitags-Training müsse der Lernprozess abgeschlossen sein, sagt Brad Binder. Danach steht die Suche nach dem passenden Set-Up im Vordergrund. Was er nicht sagt: Die Kollegen, die den Kurs schon kennen, haben dann bereits einen erheblichen Wissensvorsprung in puncto Set-Up.

Brad Binder & KTM Team Sachsenring 2015

Brad Binder & KTM Team Sachsenring 2015

Er lerne neue Strecken schnell, glaubt Binder. Das resultiere daraus, dass für ihn als Südafrikaner alle europäischen Strecken neu waren. Eine gute Schule sei das gewesen. Brads jüngerer Bruder Darryn, seit diesem Jahr ebenfalls in der Moto3-WM unterwegs, steht nun vor derselben Herausforderung: viele Strecken sind Neuland. Gibt der ältere Bruder da Hilfestellung?

„Darryn bekommt alle Streckeninfos von mir. Auch die Erkundung mit dem Scooter machen wir gemeinsam.“ Aber den Bruder im Freien Training hinterherfahren lassen, damit der sich die Linie abschauen kann? Oder im Qualifying auf ihn warten, um ihm einen Windschatten zu spendieren? Nein. „Ich muss als KTM Werkspilot nach mir selbst schauen. Ich kann nicht während der Trainings den Instruktor für Darryn spielen.“

Dann geht Brad Binder die Stufen des Ajo-Team-Trucks hinunter, sein Blick fällt hinüber zur Rechtskurve hinter der Boxenausfahrt. Das weckt Erinnerungen. „Mein erstes Rennen hier auf dem Sachsenring … oh je.“ Er lacht. Wieso oh je? Binder erzählt, damals im Red Bull MotoGP Rookies Cup sei nicht nur die Strecke, sondern auch der Regen für ihn neu gewesen. In seiner Heimat Südafrika werden bei Regen grundsätzlich keine Motorradrennen gestartet. Am Sachsenring 2009 fuhr Binder also das erste Mal mit einem Rennmotorrad im Regen. Anfangs habe er sich gewundert, weshalb die anderen so langsam fuhren. In Runde 4 wusste er weshalb: Da lag er nach einem Highsider mit gebrochenem Finger auf der Straße.

Brad Binder (#41) KTM RC 250 GP Sachsenring 2015

Brad Binder (#41) & Karel Hanika (#98) KTM RC 250 GP Sachsenring 2015

Fotos: Marco Campelli