2020 MotoGP™: DIE GESCHICHTE EINES MECHANIKERS

Terminhektik, erstmalige Sieger und völlig unvorhersehbare Szenen: Die heurige MotoGP-Saison glich bisher einer Achterbahnfahrt. Wie aber fühlen sich die Menschen, die in den Boxen arbeiten?!

Jonny Eyre setzt sich hin und bläst erschöpft seine Backen auf. Es war ein geschäftiger Tag am Circuit de Barcelona-Catalunya und wir fragen ihn, was sein Leben als Mechaniker von Brad Binder bei Red Bull KTM Factory Racing nach neun Rennen in elf Wochen im Jahr 2020 mit sich gebracht hat. 

John Eyre – Red Bull KTM Factory Racing
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Der Engländer ist an lange Reisen und einen Sport gewöhnt, der ihn etwa neun Monate im Jahr von zuhause fernhält. Die weltweite Pandemie des heurigen Jahres aber hat dazu geführt, dass die MotoGP-Saison erst im Mai begann. Darüber hinaus werden die verbleibenden Rennen in extrem kurzen Abständen – manchmal auf derselben Strecke und an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden – ausgetragen.

„Diese Situation fordert uns sehr, da man entweder sofort abreisen oder am selben Ort warten muss“, so Jonny. „Auf der einen Seite kann das ein Vorteil sein, wenn der Fahrer zum Beispiel mit dem Setup hadert. So hat er am darauffolgenden Wochenende eine weitere Chance. Drei Rennen hintereinander sind hart, da bekommt man keine Pause, keine Möglichkeit, einmal Luft zu holen. Am Sonntagabend ändert man dann schon Dinge für das nächste Wochenende oder – wenn man weiterreist – packt alles zusammen, fliegt weiter und packt alles wieder aus.“

Jonny hat jahrelange Erfahrung im MotoGP paddock
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In der MotoGP zu arbeiten kann ermüdend sein und erfordert Kompromisse und Hingabe: Das ist an sich nichts Neues, da der Kalender in den letzten Jahren bereits auf 20 Rennen (plus Tests vor und in der Mitte der Saison sowie im Winter) angewachsen ist. In der derzeitigen Situation, in der internationale Reisen besonders schwierig sind, freuen sich die Teams, wieder an der Strecke sein zu können. Außerdem hat das Jahr 2020 in den beinahe verlassenen Boxengassen und Fahrerlagern zu einer neuen Intensität geführt.

„Ich glaube nicht, dass das irgendwelche Auswirkungen auf die Leidenschaft der Menschen für ihren Job hat“, denkt Eyre. „Einen guten Fahrer zu haben, der vernünftige Resultate liefert, hebt die Laune und stärkt die Motivation – besonders unter den Jungs, mit denen man zusammenarbeitet. Das ist der Schlüssel zu einem guten Teamgeist. Aber auch wenn du etwas niedergeschlagen bist und ein paar aufmunternde Worte brauchst, sind sie da. Sie sind eigentlich so etwas wie Freunde.“

Brad Binders KTM RC16
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Brad liefert ab

Red Bull KTM ist mit Rookie Brad Binder im Jahr 2020 in ganz neue, emotionale Höhen vorgedrungen. Nach den Tests im Jahr 2019, bei denen er gute zwei Sekunden Rückstand auf die besten Fahrer hatte, sah es so aus, als würde er einige Zeit brauchen, um sich an die MotoGP zu gewöhnen. Allen Vorzeichen zum Trotz konnte er beim ersten Rennen in Jerez aber gute Resultate abliefern und wurde schnell zu einer der Überraschungen der Saison, besonders, als er KTM – erst dreieinhalb Jahre, nachdem der Hersteller in die Klasse eingestiegen war – den ersten Sieg bescherte.

Die Ergebnisse des jungen Südafrikaners machten das Jahr 2020 noch surrealer für Eyre und seine Crew. „Brad hat sich seit dem letzten Jahr in jeder Hinsicht gewandelt“, gibt er zu Protokoll. „Er will lernen. Er will alles richtig machen. Es macht ihm nichts aus, zu testen und Dinge herauszufinden, und das macht den Unterschied. Er probiert gerne Neues aus, während andere verlangen, dass jedes neue Teil sofort gut funktioniert. Brad scheut die Arbeit nicht.“

Brad Binder auf der Strecke mit seiner KTM RC16
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Binders Charakter hat dem Team dabei geholfen, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, in der die Menschen mit den COVID-Einschränkungen und den verrückten Wendungen, die bis jetzt sechs verschiedene Sieger hervorgebracht haben, fertigwerden können. „Wir mögen Brad, weil er einer von uns ist. Er kommt oft zu uns und man kann mit ihm über alles plaudern. Er geht mit den Jungs Rad fahren. In Brünn spielte er mit uns Tischtennis. Er verbringt Zeit mit uns und das schafft eine gute Atmosphäre.“

„Wenn jeder eine gute Beziehung zum Fahrer hat, schafft das eine positive Stimmung“, fügt Eyre hinzu. „Als er in Jerez einen Unfall hatte, kam er zu uns und sagte: ‚Tut mir leid, Jungs‘. Wir antworteten: ‚Hauptsache, du bist in Ordnung, das Bike können wir reparieren‘. Das gehört zum Rennsport dazu. Du kannst das Bike herrichten, aber nicht den Fahrer.“

Das Team feiert Brad Binders und KTMs sensationellen ersten MotoGP-Sieg in Brünn
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Brünn

Am 9. August 2020 wurde KTM-Geschichte geschrieben: An jenem Tag gewann Binder für den Hersteller das erste Rennen in der Königsklasse und sorgte damit dafür, dass die ‚orange‘ Mannschaft nun in jeder wichtigen, von der FIM ausgetragenen Disziplin einen Goldpokal aufweisen kann. Eyre war an der Strecke von Brünn mittendrin im Siegestaumel um den 25-Jährigen und seine RC16.

„Um ehrlich zu sein, hatten wir überhaupt nicht damit gerechnet, und ich glaube, Brad auch nicht“, sagt er lächelnd. „Ich kümmerte mich um die Boxentafeln und unsere Box war sehr nahe an den letzten Kurven, sodass wir weit vom Rest der Gruppe entfernt waren. Unsere Funkgeräte liefen heiß. Brad lag in einer guten Position. Er leistete sich keine Fehler. Nach dem Rennen sagten wir uns: ‚Ja, leck mich am A****, wir haben tatsächlich gewonnen‘. Aus mir brachen die Emotionen erst hervor, als ich zurück in der Box war. Ich verlor für drei Tage meine Stimme! Wir hatten alle so hart gearbeitet – das Team, die Techniker und alle im Werk – und einen Sieg zu feiern war einfach umwerfend.“

Jonny zeigt Brad die Boxentafel – jedes Teammitglied hat bestimmte Aufgaben
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Die Routine

Während sich viele Dinge in der MotoGP geändert haben – beschränkte Zuschauerzahlen, abgeschottete Fahrerlager, durchgehende PCR-Tests – ist die Arbeit in der Box (abgesehen vom Tragen der Gesichtsmaske) gleich geblieben. „Samstagabend ist wahrscheinlich die hektischste Zeit an einem GP-Wochenende, da man alles für das Rennen herrichten muss. Das bedeutet, alles zweimal durchzuchecken und vielleicht ein paar Teile, die ihre Lebensdauer erreicht haben (oder das während des Rennens tun würden), auszutauschen. Solche Sachen“, so Eyre.

Die Mechaniker haben einen besonderen Draht zum Fahrer, aber auch einen zum Motorrad. Eyre, der mehr als ein Jahrzehnt lang Teil eines anderen Werksteams war, war von Anfang an in KTMs MotoGP-Projekt involviert und kennt die RC16 wie kaum ein anderer. „Sie ist ein echtes Race-Bike. Sie wurde so entwickelt, dass man leicht an ihr arbeiten kann. Es gibt nichts an diesem Motorrad, das schwierig oder nervig ist. Es wurde zum Rennfahren gebaut und auch dafür, auseinander genommen zu werden. Anfangs war KTM neu in der Klasse und musste viel lernen, aber im Laufe der Jahre entwickelte sich die RC16 zu einem konkurrenzfähigen MotoGP-Bike – auf der Strecke ebenso wie in der Box.“

Laut Jonny ist die KTM RC16 ‚ein echtes Race-Bike. Entwickelt, um daran arbeiten zu können.‘
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Eyre könnte die Maschine mit der Startnummer 33 wohl mit geschlossenen Augen zerlegen, aber bei der technischen Vorbereitung muss alles professionell zugehen. „Man baut alles so zusammen, wie man es selbst gerne hätte. Ich muss meinem Bike voll vertrauen können und das habe ich im Hinterkopf, wenn ich daran arbeite“, erklärt er. „Wenn man ein gutes Teamwork hat, stimmt auch die Leistung, und ich habe kein Problem damit, dass meine Arbeit von jemandem kontrolliert wird – zum Beispiel die Bremssättel. Wir geben aufeinander acht.“

Laut Eyre ist es heute eine Mammutaufgabe, ein MotoGP-Bike für den Regen herzurichten („Ich würde sagen, dass wir etwa 15 Minuten für ein Regen-Setup brauchen, und da arbeiten 3-4 Jungs mit“) und nach einem Unfall stehen weitere Stunden Arbeit auf dem Programm („Das macht man einfach mit. Wenn der Fahrer in Ordnung ist und wir bis 1 Uhr früh arbeiten, dann ist das einfach so. An manchen Tagen machst du zwischen 6 und 7 Feierabend und an anderen erst um Mitternacht.“). Wenn es darum geht, Komponenten zu inspizieren und die RC16 zu reparieren, werden keine Kompromisse gemacht: „Wenn man Zweifel hat oder ein Teil ‚fragwürdig‘ aussieht, tauscht man das Teil besser aus. Man kann kein Risiko eingehen. Aus diesem Grund haben meine Jungs kein Problem damit, hart zu arbeiten und Sachen auszutauschen. Wenn der Rahmen verzogen ist, tauschen wir ihn aus. Wenn wir neue Bremsleitungen brauchen, bauen wir neue Bremsleitungen ein. Wir arbeiten zu dritt, wobei jeder seine eigene Aufgabe hat, wir aber trotzdem wie eine Einheit vorgehen. Ich tausche vielleicht eine Schwinge aus, während jemand anderes an der Frontpartie und der Dritte am Motor arbeitet. Man macht seinen Job, ist aber immer am Arbeiten und steht nie still.“

Das Bike ‚aufzufangen‘ ist ganz schön knifflig, wie Jonny uns erklärt
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Wenn die Fahrer während eines Rennens die Bikes tauschen, geht es in der MotoGP-Box fast zu wie bei einem Boxenstopp in der Formel 1. Die dazugehörige Technik wird immer wieder trainiert und wenn ein Rennen zu einem Regenrennen erklärt wird, weiß jeder in der Box, was er zu tun hat (und das betrifft auch den Fahrer). „Wir trainieren den Motorradtausch ein- bis zweimal pro Wochenende. Meist am Ende einer Sitzung oder beim Warm-Up. So sind wir bereit und wissen, wo wir besser oder schlechter sind als die anderen Teams.“

Manchmal kann es bei der Einfahrt in die Boxengasse ganz schön haarig werden. „Ich erinnere mich, wie Dani Pedrosa (für den ich damals arbeitete) in Australien zu einem Motorradtausch an die Box kam. Ich ergriff das Bike, aber es hatte einen 5-Zylinder-Motor und die Kurbelwelle drehte sich ein paar Grad weiter, nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte. Es traf mich direkt zwischen den Beinen. Dani war inzwischen wieder auf der Strecke, ich aber lag am Boden. Mein Chef sagte ‚Jonny! Wir brauchen dich!‘ und ich krümmte mich vor Schmerzen!“

Das KTM-Team ist wie eine Familie – jeder hat seine Aufgaben und ist Teil des Ganzen
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Es zeigt sich, dass es eine bestimmte Sensibilität gibt, die es zu schützen gilt, – auch bei MotoGP-Mechanikern. Diese Jungs leisten echt harte Arbeit und sind mit Leidenschaft dabei, um die Show am Laufen zu halten.