5 Dinge, die du vielleicht nicht über die Reifen in der MXGP gewusst hast

Mit fast 70 Siegen in allen Kategorien ist die italienische Marke Pirelli der dominierende Reifenhersteller in der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft. Was hat sie so erfolgreich gemacht und welche Anstrengungen steckt das Unternehmen in sein MXGP-Programm? Wir haben den offiziellen Lieferanten des Red Bull KTM Factory Racing Teams um eine Antwort gebeten …

KTM 450 SX-F 2018 © Ray Archer

1. Ja, die Reifen sind im Motocross-Sport nach wie vor wichtig

Roberto Pasquale Sanzone, der MX Race Service Manager von Pirelli, arbeitet bereits seit 20 Jahren für das Unternehmen und konnte in verschiedenen Klassen des Auto- und Motorrad-Sports Erfahrungen sammeln. Seit 5 Jahren ist er für die Motocross-Sparte zuständig und er war für die Einführung des neuen ‚MX Soft‘-Reifens – wie es scheint, die erste Wahl für die meisten Fahrer bei Red Bull KTM – in der MXGP verantwortlich. Das österreichische Werksteam ist eine hochkarätige Meute unter den zwanzig Fahrern, die in der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft mit Pirelli-Reifen antreten. Mit Hilfe dieser Allianz konnten sie in diesem Jahrzehnt bereits unzählige Siege, Podestplätze und Titel einfahren.

In der MotoGPTM stellen die Reifen von Michelin die Basis für jeden einzelnen Grand Prix dar. Die Leistung ihrer Slick- oder Regenreifen ist in diesem Sport und sogar für die Integrität der Serie allesentscheidend: Die Reifen bilden in vielerlei Hinsicht das ‚Rückgrat‘ dieser Disziplin.

Glenn Coldenhoff (NED, #259), Tony Cairoli (ITA, #222) & Jeffrey Herlings (NED, #84) Trentino (ITA) 2018 © Ray Archer

Die unterschiedlichen Boden- und Wetterverhältnisse, die in der MXGP an nur einem Tag auftreten können, bedeuten, dass Grip und Traktion essentiell sind. Dennoch wird weniger Zeit in die Prüfung der Gummimischungen gesteckt. Während diese beim Asphalt-Rennsport extremen Temperaturen, Gewichtsbelastungen und (enormen!) Reibungskräften standhalten müssen, verhält es sich im Motocross-Sport ähnlich, aber auf eine andere Art: Dabei geht es um den unerbittlich rauen Untergrund, die Kräfte, die auf das Profil wirken, und die harten Landungen beim Springen. Und nicht zuletzt müssen sie beim wahrscheinlich wichtigsten Element des Grand Prix-Sports gut funktionieren: Beim Start aus dem metallenen Startgatter.

„Der Start ist in dieser Meisterschaft der Schlüssel und besonders in den letzten beiden Jahren, in denen ein aus Metall gemachtes Startgatter verwendet wurde“, so Pasquale. „Natürlich will jeder Fahrer Grip und Traktion und wir arbeiten daran, ihnen beides zur Verfügung zu stellen. Für Pirelli ist es großartig, mit all diesen Werksfahrern zu arbeiten, da wir von jedem einzelnen viel lernen können. Außerdem bekommen wir so ein gutes Gefühl dafür, was der durchschnittliche Fahrer und Racer braucht.“

Agueda (POR) 2018 © Ray Archer

Pirelli und andere Marken wie Dunlop verwenden die MXGP ganz intensiv, um ihre Produkte zu testen. Während ein Grand Prix diese Woche vielleicht auf sandigem Untergrund stattfindet, kann es die Woche darauf hartes, kompaktes Terrain, schwerer Schlamm oder steiniges Gelände sein. Fahrer wie Tony Cairoli und Jeffrey Herlings reizen auch die Technik bis ans Äußerste aus. „Wir hören uns jedes Feedback an, am Ende analysieren wir aber, welche Reifen für das Rennen ausgewählt werden“, kommentiert Pasquale. „Wenn die Top-Fahrer bei jedem Rennen die gleichen Reifen verwenden und gewinnen, Rundenrekorde aufstellen und Starts für sich entscheiden, dann wissen wir, dass unser Reifen eine gute Performance abliefert! Manchmal greift der schnellste Fahrer zum falschen Reifen, während zehn andere den richtigen wählen.“

2. Bei jedem Grand Prix hat der Race Service von Pirelli alle Hände voll zu tun

Der gelbe Lastwagen ist einer der auffälligsten unter den technischen Ausrüstern im Fahrerlager. Die Reifen-Crew von Pirelli arbeitet ununterbrochen mit den Teams und Mechanikern zusammen, um zu garantieren, dass die Räder der Grand Prix-Motorräder richtig angebracht und vorbereitet werden. „Je nach Rennstrecke bringen wir 300 bis 400 Reifen mit“, so Pasquale zu den unzähligen, sauber in der Anlage gestapelten schwarzen ‚Ringen‘. „Wir verwenden einen Service-Truck mit einer 3- oder 4-köpfigen Crew. Wir müssen auf alle Eventualitäten und jedes Wetter sowie alle Wünsche der Fahrer vorbereitet sein. Deshalb bringen wir mehr oder weniger unser gesamtes Sortiment mit.“

„Die Crew arbeitet an der Strecke richtig hart“, fügt er hinzu. „Jeder Fahrer hat ein anderes Setup, wie zum Beispiel verschiedene Mousse-Füllungen, oder eine andere Arbeitsweise, wie etwa das Rennen mit gebrauchten Reifen zu beginnen. Andere wiederum brauchten jedes Mal, wenn das Startgatter fällt, neue Reifen. Es kommt auf die Mentalität des Fahrers an. Wenn es um die Performance geht, gleichen sich ein neuer oder gebrauchter Reifen wie ein Ei dem anderen. Das Mousse ist eine persönliche Entscheidung und hängt von den Streckenbedingungen und dem Wetter ab. Manchmal verwenden wir ein Mousse mit einem Druck von 0,8 Bar, ein anderer Fahrer verlangt dann vielleicht auf derselben Strecke eines mit 1,3 Bar. Wir versuchen, jedem Wunsch nachzukommen.“

Die Charakteristik des Grand Prix entscheidet darüber, wie viel vor der Ladung des Trucks verbraucht wird, bevor dieser zurück zum Werk fährt. „Es kommt darauf an“, so Pasquale. „Bei einem Rennen auf Sand ist der Verschleiß nicht so hoch wie auf hartem, kompaktem Untergrund wie in Arco di Trento, wo die Reifen wesentlich größeren Belastungen ausgesetzt sind. Manchmal verwenden wir pro GP 2-300 Reifen.“

Agueda (POR) 2018 © Ray Archer

3. Es wird nicht so viel getestet, wie du denkst

Pasquale betont, dass die „Entwicklungsarbeit nie beendet ist“; wenn es aber um das Testen und Analysieren neuer Reifen geht, tut sich während der Rennen relativ wenig, und selbst über das Jahr gesehen wird nur unregelmäßig getestet und dann auch nur, wenn Pirelli sich sicher ist, ein Konzept zu haben, das funktionieren wird.

„Wir ziehen es vor, den Reifen nicht wegen einer Idee, die an einem Wochenende entsteht, zu ändern“, macht Pasquale klar. „Wenn eine Theorie entwickelt wird, tauschen wir uns im Unternehmen und in der Werkstatt aus und diskutieren sie, um zu einer klaren Entscheidung für alle zu gelangen. Bei den Rennen experimentieren wir nicht gerne. Beim Testen ist das natürlich anders: Dabei können wir verschiedene Spezifikationen ausprobieren und uns neue Lösungen ausdenken.“

Ein Luxus, der den Motocross-Sport von anderen Ausprägungen des Motorrad-Rennsports unterscheidet, ist die Häufigkeit, mit der Fahrer auf denselben Bikes trainieren und üben können. Das bedeutet wiederum, dass ein großer Anteil von Pirellis Arbeit und Informationssammlung abseits des Drucks und des Scheinwerferlichts der Grand Prix-Strecken vonstattengeht. Pasquale dazu: „Die Fahrer trainieren fast jeden Tag, können also Reifen ausprobieren, wann immer sie wollen. So können wir zu jeder Zeit im Jahr – und nicht nur im Januar oder Dezember – neue Reifen zum Testen liefern.“

Für die meisten Menschen sind sich Motocross-Reifen im Aussehen und in der Haptik extrem ähnlich. „Der mittelweiche 32er Reifen in der MX sieht genauso aus wie ein Reifen, der vor 30 Jahren verwendet wurde!“, so Pasquale lächelnd. „Natürlich ist die Mischung, die Konstruktion und alles andere völlig anders: Heute sind wir auf einem wirklich hohen Niveau.“ Hier kommt die Feinfühligkeit und die Sensibilität der MXGP-Profis gerade recht. „Nicht jeder ist mit einer großen Sensibilität gesegnet. Von der Performance her kann man den neuen MX Soft nicht mit dem Vorgänger vergleichen. Wir haben ihn letztes Jahr beim belgischen Grand Prix eingeführt. Da er so neu war, haben ihn nicht alle sofort eingesetzt, beim GP der Niederlande in Assen ein paar Wochen später fuhren aber bereits alle damit.“

Jorge Prado (ESP) KTM 250 SX-F Agueda (POR) 2018 © Ray Archer

Grand Prix-Fahrer sind eben ein spezieller Menschenschlag. Was uns zum nächsten Punkt bringt …

4. Fahrer mögen keine zu großen Veränderungen

Zwar bombardiert Pirelli die Werksfahrer ohnehin nicht gerade mit Optionen – es stehen lediglich sieben bis acht Modelle zur Auswahl, manche davon für ein ganz besonderes Terrain – die Fahrer sind aber auch selbst nicht besonders wählerisch, wie Pasquale uns wissen lässt. „Die Fahrer sind bei den Reifen nicht übermäßig wählerisch oder verschwenderisch. Sie sind schließlich Profis und ich bin wirklich dankbar dafür, da das Niveau, auf dem sie fahren, extrem hoch ist.“

„Außerdem wissen wir, dass die Fahrer nicht gerne Dinge verändern, die sie bereits gut kennen. Manchmal ist es schwierig für uns, sie von einem neuen Produkt zu überzeugen, da sie sich schon so an das alte gewöhnt haben … das ist im Motocross-Sport schon etwas merkwürdig.“

Beim Renn-Setup zählen die Reifen vielleicht nicht so viel wie etwa die Federung, die Getriebeabstufung oder das Motormapping, sie sind aber trotzdem ein essentieller Bestandteil. Aus diesem Grund ist es relativ normal, dass ein zufriedener Rennfahrer es unterlassen wird, eine Veränderung vorzunehmen, die in beide Richtungen ausschlagen könnte. „Sie bleiben meistens bei den gleichen Reifen. Natürlich gibt es den einen oder anderen Fahrer im Team, der seine eigenen Ideen hat. Die meisten sind aber konstant. In gewisser Weise bin ich glücklich darüber, dass die KTM-Jungs unsere neuen Produkte so gut angenommen haben. Das zeigt, dass sie uns vertrauen – und der MX Soft ist beliebt. Dieser Reifen ist zum Teil das Resultat der Arbeit mit diesen Fahrern.“

Pirelli arbeitet aber nicht nur mir Cairoli, Herlings, Coldenhoff, Jonass und Prado. „Wir versuchen, mit allen unseren Fahrern zu testen. Manchmal auch mit einigen ‚Nicht-Werksfahrern‘ und Testfahrern“, verrät uns Pasquale. „Wir testen mit so vielen verschiedenen Bikes und Fahrern wie möglich. Wir wollen keinen Reifen, der nur mit einer Marke oder einem Typ Motorrad funktioniert.“

Pauls Jonass (LAT) KTM 250 SX-F Trentino (ITA) 2018 © Ray Archer

5. Es gibt keine ‚speziellen‘ MX-Reifen. Du kannst dieselben Reifen kaufen, die auch die MXGP-Stars verwenden.

Eine Werks-KTM 450 SX-F oder –KTM 250 SX-F verfügt über einzigartige Teile und Komponenten, die der normale Fahrer oder KTM-Fan nie käuflich erwerben kann. Im Gegensatz dazu bedeutet der ‚universelle‘ Zugang von Pirelli, dass ‚spezielle‘ Lösungen für MXGP-Fahrer extrem unüblich sind. Fast nie werden Reifen für einen Fahrer von Hand geschnitten. „Wir fertigen ganz wenige ‚Spezialreifen‘. Wenn wir das tun, entwickeln wir diesen Reifen dann zu einem Produkt weiter, das man im nächsten Jahr kaufen kann. Das ist unsere Philosophie“, so Pasquale. „Wir folgen nicht einem bestimmten Fahrer. Wir folgen der Gruppe. Wir entwickeln Produkte, die bei vielen Fahrern ankommen und gut zur Fahrweise vieler Menschen passen.“

„Unser Ziel ist, Reifen zu entwickeln, die wir verkaufen können, anstatt sie nur im Rennsport zu verwenden“, fügt er hinzu. „Manchmal können die Leute kaum glauben, dass die Reifen, die sie beim Händler kaufen können, identisch sind mit jenen, die wir bei einem Weltmeisterschaftslauf einsetzen … aber genauso ist es.“

Fotos: Ray Archer
Video: Luca Piffaretti