5 GRÜNDE WARUM TONY CAIROLI EINER DER GRÖSSTEN ALLER ZEITEN IST

Laut seiner beneidenswerten Statistik ist Tony Cairoli der zweitbeste Fahrer der 64-jährigen Geschichte der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft. Der Sizilianer ist aber im Laufe seiner Karriere nicht nur in die Geschichtsbücher des Sports gefahren, sondern hat auch KTM-Geschichte geschrieben … 

Tony Cairoli ist eine Rennlegende. Er wird sich Ende der Saison 2021 aus dem Grand Prix Wettkampf zurückziehen.
PC @S.Vidic / Red Bull Content Pool

Ich war dabei, als Tony Cairoli 2003 zum ersten Mal versuchte, sich für Grand-Prix-Rennen zu qualifizieren. Ich sah einen gertenschlanken, seltsam und zerzaust aussehenden jungen Mann, der auf einem Mini-Bike durch das MXGP-Fahrerlager wuselte. Ein Jahr später, mit erst 18 Jahren, war er dank seiner Holeshots, seiner Ergebnisse und seiner Extravaganz in aller Munde. Er schlug in der Szene ein wie eine Bombe und sollte fast zwei Jahrzehnte lang an der Spitze des Motocross-Sports stehen. 

1. Übertroffene Erwartungen 

In seinen ersten Jahren bei den 250er und in der MX2-Klasse (2004-2008) half Cairolis kleine Statur ihm sicherlich bei den ganzen Holeshots, die er gewann. Dennoch sollten ihm sein Ehrgeiz und seine Liebe zum Rennfahren (die sich in seiner Art, traditionelle Strecken mit seinem ‚Alles-oder-nichts-Stil‘ anzugehen, niederschlug) zum Status eines sensationellen Newcomers verhelfen. Tony (wie „Antonio“ lieber genannt wird) war ein herausragender Vertreter einer neuen Generation von Fahrern, die das Bike – wie im BMX-Sport – ihrem Willen unterwarfen und wie die Amerikaner jener Zeit von Start bis Ziel ständig angriffen. Dass es Cairoli in den Grand-Prix-Sport geschafft hatte, war schon ein kleines Wunder gewesen. Schließlich stammt er aus bescheidenen Verhältnissen und musste seinen Heimatort Patti an der sizilianischen Nordostküste verlassen und auf das italienische Festland übersiedeln, um als Fahrer weiter Fortschritte machen zu können. Für einen Jugendlichen bedeutete das eine große Umstellung. Er war das jüngste Kind der Familie und war von seinen älteren Schwestern verwöhnt worden (er durfte sogar den Namen seines Neffen aussuchen und entschied sich für ‚Jeremy‘ – nach Jeremy McGrath, dem Idol seiner Kindheit, dessen Nac-Nac-Trick er in seinen ersten GP-Jahren oft imitieren sollte). Cairolis sizilianische Wurzeln machten ihn in der italienischen (geschweige denn der internationalen) Motocross-Szene zu einem Außenseiter. Darüber hinaus gab es damals nicht die ‚pyramidale‘ Struktur, die die EMX heute zu einem Sprungbrett in die MXGP macht.  

Ein junger Cairoli mit Stefan Pierer, Infront (früher Youthstream)‘s Giuseppe Luongo und Claudio De Carli am Beginn einer langwährenden Grand Prix Erfolgsgeschichte
PC @KTM

Sein Vertrag mit Claudio De Carlis Yamaha-Privatteam im Jahr 2004 sollte der Grundstein seiner herausragenden Karriere werden. Innerhalb eines Jahres übertrumpfte er Teamkollegen mit schillernderen Lebensläufen und mehr Erfahrung wie Claudio Federici und ein weiterer Umzug – dieses Mal nach Belgien – half ihm, die örtlichen (sandigen) Strecken kennenzulernen, und erwies sich als weiterer Meilenstein.  

Tony Cairoli glaubte an KTM und das KTM 350 SX-F Projekt – der Erfolg stellte sich gleich 2010 in seiner ersten Saison in orange ein
PC @KTM

Zu einer Zeit, in der junge italienische Fahrer es schwer hatten, in die Weltmeisterschaft aufzusteigen, musste Cairoli schnell zeigen, was er draufhatte. Er brachte kein Geld ins Team, konnte kaum Englisch, lebte in Nordeuropa, weit weg von den Menschen, die er liebte, und zu allem Überdruss war er auch noch Asthmatiker! Die Zeichen standen nicht gut. Er aber holte aus jeder sich bietenden Chance das Beste heraus und startete 2004 in die längste Saison seiner noch jungen Karriere, in der er sich gegen harte Rivalen wie Ben Townley, Tyla Rattray und Marc de Reuver behaupten musste. Innerhalb weniger Monate zog er im Grand-Prix-Sport die ganze Aufmerksamkeit auf sich.

2. Am Puls der Zeit 

Als junger Athlet strotzte Cairoli vor Selbstvertrauen und mischte Fehler und Fehleinschätzungen (zum Beispiel trat er beim GP von Frankreich 2005 nach Davide Guarneri, was ihm eine Sperre für ein Rennen einbrachte) mit einer unschlagbaren Form, was ihm 2005 und 2007 den Meisterschaftssieg bescherte. Im Jahr 2007 machte sich zum ersten Mal bemerkbar, dass Cairoli die Flexibilität und Intelligenz hatte, eine echte ‚Legende‘ zu werden. Er setzte sich nicht nur gegen starke Gegner wie Christophe Pourcel und Tommy Searle durch, sondern entwickelte auch seinen Stil weiter und tauschte die ‚Show‘ gegen mehr ‚Go‘ sowie eine unschlagbare Konstanz. Er fixierte drei Läufe vor Ende der Saison seinen zweiten Titel und schaffte auch das Kunststück, als schmächtiger Sizilianer zu einem der weltbesten Fahrer auf Sand zu werden. Zum Abschluss einer triumphalen Saison gewann er beide Rennen auf der schwierigen Strecke von Lierop.  

Ein zweiter Titel von Cairoli auf der KTM 350 SX-F bekräftigt den Einsatz dieses Bikes in der Meisterschaft. Es sollen noch drei weitere mit dem wendigen MXGP Bike folgen.
PC @KTM

Noch im gleichen Sommer legte er den Grundstein für eine glorreiche Zukunft. Mit dem MX2-Titel in der Tasche trat er als Wild-Card-Fahrer auf einer 450er beim britischen MXGP auf der temporären Strecke von Donington Park an und holte sich einen 2. und einen 1. Platz. Damit bewies er, dass er nicht nur ein Spezialist für die kleinen Hubräume war.  

2008 sollte sein letztes Jahr bei den 250ern sein und endete leider mit seiner ersten schweren Verletzung. Eine Bänderverletzung am linken Knie, die er sich beim Grand Prix von Südafrika zuzog, beendete jede Chance auf einen dritten Titel. Nach der Operation und seiner Rehabilitation aber dachte er ohnehin nur mehr an die MXGP. Im Laufe des Jahres 2008 wurde auch seine Beziehung zu seiner zukünftigen Frau Jill Cox immer ernster und das Paar wurde zu einem schlagkräftigen Duo im Fahrerlager der MXGP. Während seine Fanbasis immer stärker wuchs, wurde er sich außerdem seiner Beliebtheit und seiner Rolle als prominenter Red Bull-Athlet bewusst. 2007 entschied sich Cairoli für die Startnummer #222, die zu einem fixen Bestandteil der MXGP wurde.  

Cairoli’s Style setzte neue Maßstäbe in der Premier Class des Motocross
PC @Ray Archer

3. Sicherheit und Risiko abwägen 

Als ehemaliger Rennfahrer wurde Claudio De Carli schnell zu mehr als einem Teammanager. Der Römer schmiedete eine enge, väterliche Partnerschaft mit Cairoli, die dazu führte, dass der Rennfahrer unweit außerhalb der italienischen Hauptstadt und in unmittelbarer Nähe der Teamwerkstatt ein Haus baute. Die beiden bauten die Rennstrecke von Malagrotta zu einer privaten Testbasis aus und Cairolis Fokus schwenkte langsam von Belgien auf sein Heimatland um. De Carlis Einfluss – und der seines treuen Teams – wurde zu einem unglaublich wichtigen Faktor und zeigte jedem Fahrer, der in Cairolis Fußstapfen treten wollte, wie wertvoll es ist, eine stabile Crew und zuverlässige Unterstützung zu haben. 

2013 weiterhin mit viel Spaß am Bike – der Aufstieg von Cairoli war nicht einfach, aber sein außergewöhnliches Talent, seine Leidenschaft für den Sport und Entschlossenheit waren schwer zu besiegen
PC @KTM

Cairoli gewann seinen ersten MXGP-Titel bereits in seiner Rookie-Saison 2009. De Carli hatte eine 450er gezaubert, die seinen Fähigkeiten und Stärken in die Hände spielte – und das zu einer Zeit, in der diese Bikes noch immer als schwer und zu stark galten. Etwa zur Halbzeit dieser Saison lernte das Duo De Carli/Cairoli Pit Beirer kennen und einigte sich mit diesem auf eine Allianz, die ab diesem Zeitpunkt das Fundament für Red Bull KTM werden sollte. Cairoli hatte genug Vertrauen in seinen Mentor und das KTM-Werk, dass er einwilligte, für die Saison 2010 die brandneue, innovative KTM 350 SX-F zu entwickeln, die noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Das Konzept sollte das Drehmoment und die Power einer 450er mit dem Handling und der Wendigkeit einer 250er verbinden. Nach den ersten Tests war klar, dass die Kombination 350/Cairoli ein Kracher werden würde. Und so sollte es auch kommen: Die Titel der Jahre 2010, 2011, 2012, 2013 und 2014 gingen an Cairoli. Er verhalf KTM zum ersten Gesamttitel in der Königsklasse und wurde zu einer Legende in Orange.

4. Abschied vom Sport 

Mit immer mehr Siegen und Meisterschaftstiteln wurde Cairoli einer der bekanntesten Motocrossfahrer der Welt und einer der bedeutendsten Motorsportler Italiens. Obwohl er selbst immer betonte, dass ihn Statistiken nicht motivieren konnten, sammelte er immer mehr Siege, Podestplätze und Laufsiege an. Abseits der Strecke musste er mit dem tragischen Verlust seiner Mutter und seines Vaters fertigwerden, die beide nach schwerer Krankheit verstorben waren. Nur wenig Tage nach dem Tod seines Vaters, gelang es Tony einen unglaublichen Sieg beim British Grand Prix von 2014 zu holen.  

Ein weiteres Bild von 2013 – die roten und goldenen Schilder beginnen sich nun für den jetzt 9-fachen Weltmeister zu häufen 
PC @Ray Archer

Cairoli besiegte seine Rivalen mit Hilfe schierer Konstanz und der Tatsache, dass er kaum Fehler machte. Er begann, die ganze Saison zu betrachten und konzentrierte sich ruhig und besonnen auf das große Ziel. Sein Stil beruhte auf der Freude am Rennfahren und daran, das Maximum aus seinen Fähigkeiten und seiner körperlichen Fitness herauszuholen. Und dieser Einsatz und Enthusiasmus machten sich immer wieder bezahlt. 

2014 – Cairoli feiert einen weiteren Titel mit dem De Carli racing team, eine standhafte Partnerschaft während seiner gesamten Karriere
PC @Ray Archer

Etwa zu dieser Zeit baute Cairoli um sich herum ein professionelles Marketing-Team auf, was eines Tages zur Gründung von Neox Management, seiner eigenen Marke RACR und einer noch engeren Partnerschaft mit Red Bull führte (sein Bild zierte Getränkedosen in ganz Europa). Zudem wurde er für große Motorrad-Messen wie die EICMA in Mailand gebucht und begann schon früh, seine eigene ‚Marke‘ und die des ganzen Sports auf Social Media zu bewerben. Heutzutage findet meist mehr als ein Lauf zur MXGP in Italien statt. 

Über Cairolis Popularität zu sprechen, weckt Erinnerungen daran, wie aufregend es war, ihn in Argentinien zu sehen, mit ihm zu sprechen oder ein Foto mit ihm zu machen, oder daran, wie hunderte von Fans in Maggiora beinahe die Red Bull KTM-Markise zerstörten beim Versuch, ihm näher zu kommen. Erfolge beim Motocross der Nationen, ein kurzer Abstecher in den Supercross und beeindruckende Ausflüge in den Rallysport konnten nicht davon ablenken. Er begann schließlich, jüngeren italienischen Fahrern als Mentor zu dienen, und es schien fast so, als wollte er das Gerücht schüren, dass ihm auf dem Bike alles leicht von der Hand ginge. Tatsächlich arbeitete Cairoli härter als jeder andere daran, seine Form zu behalten.  

Tony Cairoli auf dem Weg zu einem weiteren Titel auf seiner KTM 450 SX-F
PC @Ray Archer

Er begann, mit seinem Stil sparsamer zu werden, weniger Risiken auf sich zu nehmen und so wenig Fehler wie möglich zu machen, um seine Position als Champion zu sichern. Anfang 2015 sagte er in einem Interview, dass er die Weltmeisterschaft 2014 gewonnen hatte, ohne mehr als „70 %“ zu geben. Dennoch konnte Tony bei Bedarf immer noch einen Gang höherschalten. Zur Mitte der Saison 2012 fiel er beim Grand Prix von Schweden in beiden Rennen aus, wodurch er die Führung in der MXGP-Weltmeisterschaft verlor. Als Antwort darauf legte die #222 noch ein Scherflein nach und gewann 13 der 14 noch ausstehenden Rennen des Jahres, um seinen vierten Titel in Folge zu holen. 

Ein emotionaler Moment mit Erinnerungen, die nie alt werden – Cairoli feiert mit seinem Team im Jahr 2017 
PC @Ray Archer

Im Jahr 2015 warf ihn ein gebrochener Arm zurück. Cairoli verletzte sich bei den Vorbereitungen auf die Saison 2016 und die ersten Zweifel an einem Fahrer, der gerade 30 geworden war, kamen auf. Trotzdem wurde 2017 zu einem seiner besten Jahre überhaupt. Mit der neuen, tonangebenden KTM 450 SX-F gewann er fünf der 18 Läufe und errang 12 Podestplätze, was zu Titel Nummer 9 reichen sollte. Damit schenkte er KTM auf beiden Bikes Meisterschaftstitel und zementierte seine Stellung als einer der ‚Besten aller Zeiten‘. 

5. Langer Atem und persönliche Einstellungen 

Beim britischen Grand Prix 2021 in Matterley Basin im Juni errang Cairoli einen 1. und einen 3. Rang. Es war sein 93. GP-Sieg (der Rekord sind 101). Mit dieser Ausbeute stellte Cairoli sicher, dass er in jedem Jahr seiner achtzehn Jahre andauernden Weltmeisterschaftskarriere wenigstens einen Sieg holen konnte: eine phänomenale Leistung. Drei Monate später und kurz vor der Bekanntgabe seines Wechsels vom Rennfahren zu einer neuen Entwicklungsrolle bei KTM feierte Cairoli seinen 36. Geburtstag und hatte noch immer Chancen auf seinen zehnten Titel.  

Auch wenn es viel zu feiern gab, darf man die Arbeitsmoral von Tony nicht vergessen. Seine Fähigkeit sich an verschiedene Konditionen anzupassen und sein Geschick am Bike sind legendär. 
PC @Ray Archer

Tonys Konkurrenzfähigkeit und sein langer Atem sind weitere Zeugnisse seiner Größe. Seine Begeisterung für den Motocross-Sport und das Rennfahren ganz allgemein wiegen schwerer als die Tiefs und die Schmerzen (eine Schulterverletzung 2019 und ein kaputtes Knie 2020) und halfen ihm auch, den Herausforderungen durch jüngere Fahrer wie Teamkollege Jeffrey Herlings und seinen ehemaligen Schützling Jorge Prado zu begegnen. Er ist in der glücklichen Lage und bescheiden genug, seine Stiefel an den Nagel zu hängen, während er noch an der Spitze des Sports steht, was seinen Legendenstatus wohl noch festigen wird.  

Wie ist/war Tony für einen Journalisten? Er war immer freundlich und grüßte einen immer mit einem „Ciao“, konnte aber aufgrund einer gewissen Schüchternheit auch abgehoben wirken. Er wurde von De Carli und seinem Team gut beschützt. Wenn es ein Problem gab, rückte das Team zusammen und versuchte, körperliche oder technische Widrigkeiten, mit denen Tony zu kämpfen hatte, zu verbergen. In diesem Netzwerk lag eine ungemeine Stärke. Im Laufe der Jahre führten seine Scharfsinnigkeit und sein Humor dazu, dass man oft versucht war, bei Pressekonferenzen eine langweilige Frage zu stellen – nur um zu sehen, was er als Antwort geben würde. Bei detaillierteren Interviews von Angesicht zu Angesicht war er verschlossener: Seine Antworten waren ebenso zurückhaltend wie seine Rennstrategie gewitzt war.  

Eine Familienangelegenheit – seinen Sohn Chase während seiner finalen Saison mitzunehmen und zu reisen zählt zu den Highlights von Tonys Karriere 
PC @Ray Archer 

Während sich die #222 auf den letzten Auftritt in der MXGP vor dem Ruhestand vorbereitet (wie passend, dass dies beim letzten GP der Saison 2021 im italienischen Mantova passieren wird, wo Cairoli seinem glorreichen Lebenslauf einen Sieg beim Motocross der Nationen hinzugefügt hatte), erinnere ich mich an Tony als leuchtendes Beispiel dafür, was jeden Rennfahrer, jeden Athleten und jede Person des öffentlichen Lebens ausmachen sollte: Er setzte in seinem Sport neue Maßstäbe, durchdrang ihn mit seiner Leidenschaft und seinem Engagement und beeinflusste andere. Er inspirierte andere zum Träumen: Kann es etwas Besseres geben?    

Caroli beendet seine Karriere – er wird jedoch in der KTM Familie bleiben und an alternativen Projekten dranbleiben. Die #222 wurde in seiner Ehre vom Grand-Prix-Wettbewerb zurückgezogen.
PC @Ray Archer
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