AN DER SPITZE DES RUDELS IN DER SUPERCROSS-SAISON 2021

Das AMA-Supercross-Jahr 2021 geht in wenigen Tagen zu Ende und Red Bull KTM Factory Racing ist seinem zweiten 450SX-Titel seit drei Jahren dicht auf den Fersen. Wir haben Team Manager Ian Harrison angerufen, um mit ihm über Supercross im Schatten einer Pandemie, die Entwicklung von Cooper Webb und mehr zu sprechen …

Cooper Webb geht als Führender in die letzten Runden der AMA 450SX Supercross Meisterschaft von 2021
PC @SimonCudby

Über FaceTime dringen laute Hintergrundgeräusche durch. In der KTM-Werkstatt hinter Ian Harrison im kalifornischen Murrieta geht es geschäftig zu, schließlich muss sich das Team auf die letzten Wochen und eine geballte Ladung Rennen vorbereiten, welche die eingeschränkte Saison 2021 mit unter der Woche ausgetragenen Rennen zu einem Ende bringen werden. Ian schenkt uns ein paar Augenblicke seiner kostbaren Zeit, um über das Jahr des Cooper Webb – des erfolgreichsten 450SX-Fahrers des Jahres 2021 und während Erstellung dieses Textes Inhaber der roten Startnummerntafel – zu sprechen. Nur Ken Roczen und Eli Tomac können den Triumph Webbs noch verhindern.

Ian Harrison – Red Bull KTM Factory Racing Team Manager
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Harrison steht unter den wachsamen Blicken von Roger De Coster seit 2019 an der Spitze von Red Bull KTM und hat dabei geholfen, Webb zu einem Meisterschaftssieg und einem zweiten Platz zu verhelfen. In diesen für den Sport und das Team unsteten Zeiten nähert er sich an einen weiteren AMA-/FIM-Titel für das Werk an. Am Horizont tauchen aber auch weitere Angelegenheiten auf, um die er sich kümmern muss …

Marvin Musquins und Cooper Webbs KTM 450 SX-F FACTORY EDITIONs unter der Red Bull KTM Factory Racing Team Markise
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Ian, 2021 ist fast vorbei und die Saison war eng, hektisch und vor allem anders: Hast du das auch als so intensiv erlebt?

Es war eigentlich gar nicht so schlimm. An einem Ort mehrere Rennen auszutragen und unter der Woche nicht rauszukönnen und zu trainieren, hat alle auf dieselbe Ebene gebracht. In Indianapolis war es jeden Tag extrem kalt – -5 oder -6 Grad. Da saßen wir alle im selben Boot. Zu dieser Zeit fiel mir auf, wie Coop immer besser wurde, und es wurde klar, wie wichtig die richtige Vorbereitung in der Nebensaison dabei ist, einen Rhythmus aufzubauen und beizubehalten. Als die Rennen in den wärmeren Staaten und Orten wie Orlando, Daytona und Dallas begannen, war er voller Energie. Er war der Konkurrenz einen Schritt voraus. Die Tatsache, dass die letzten sechs Läufe des Jahres 2020 in einem Stadion und auf einmal ausgetragen wurden, gab uns einen guten Vorgeschmack darauf, was wir heuer erwarten konnten.

Das Red Bull KTM Factory Racing Supercross Team von 2021
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War es eine Herausforderung, während einer Pandemie ein Team zu leiten?

Ja, aber in den USA ist die Situation in Sachen Beschränkungen und so weiter anders als in Europa. Die schwierigste Sache ist, in den Boxen ständig isoliert zu sein. Auch das Reisen ist etwas komplizierter. Und wenn es Zeit zum Covid-Testen wird, kommt schon Nervosität auf. Wir werden zweimal die Woche getestet und wenn jemand positiv ist, muss man einen Plan haben, um damit effektiv umgehen zu können. Natürlich möchte man seine Fahrer schützen, man kann aber nicht so wahnsinnig viel tun. Man kann nur hoffen, dass die Menschen ihr Möglichstes tun, sich von der Strecke und potenziellen Gefahren fernzuhalten.

Webb, sein Mechaniker und Harrison 2020 bei der Oakland SX Runde
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Bist du ein Fan der Rennen unter der Woche? Glaubst du, dass dieses Format zum Normalzustand im Supercross werden könnte?

Letztes Jahr hätte ich wohl ja gesagt … aber nach diesem Jahr und nachdem wir zwölf Tage lang an einem Ort festgenagelt waren, bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, dass dieses Format spätestens nach dem letzten Samstag mit einem Dreierpack an Rennen an den Kräften der Leute zehrt. Immer in derselben Umgebung, denselben Wohnwagen, denselben Zelten zu sein: Das wird nach einer gewissen Zeit langweilig. Samstag bis Dienstag mit dem darauffolgenden Samstag als Ruhetag: Das könnte funktionieren. Drei Rennen in einer Woche waren aber für jeden im Fahrerlager hart.

Wie schwierig – oder merkwürdig – war es, eine Saison in den Stadien fast ohne Publikum oder Atmosphäre zu beenden?

Stimmt genau. Da fehlte ein großer Teil des Ganzen. Aber ganz ehrlich: Sobald das Rennen beginnt, ist man so leidenschaftlich dabei, dass das gar nicht so groß auffällt. Nur während der Eröffnungszeremonie und der Trainings-Sessions kommt es einem schon etwas ‚leer‘ vor. Das ist etwas merkwürdig und ‚unstimmig‘. Ich ziehe Supercross mit riesigen Zuschauermassen vor, die unsere Fahrer anfeuern.

Intensive Renn-Wochen zehren an den Kräften, aber Webb kann sich über eine erfolgreiche Saison 2021 freuen
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Cooper kämpft mit Ken Roczen und Eli Tomac um den Titel. Du arbeitest jetzt schon drei Jahre lang mit ihm. Hat sich sein Zugang in dieser Zeit stark verändert?

Er begann 2020 langsam, da er krank gewesen war und sogar die Möglichkeit im Raum stand, dass er sich den Coronavirus eingefangen haben könnte. Dann hatte er einen schweren Unfall, bei dem uns allen für einen Moment das Herz stehen blieb. Die Saison auf dem 2. Platz zu beenden war also alles andere als ein schlechtes Ergebnis. Heuer habe ich aber auf jeden Fall einen Cooper Webb gesehen, der sich ein Rennen einteilen kann. Er denkt aktiv über seine Position im Rennen und darüber nach, was die anderen Fahrer tun werden, über seine Angriffsstrategie auf der Strecke und darüber, wie und wann er zulegen muss. Er ist – aus Sicht des Rennfahrers – definitiv erwachsener geworden und diese Art von Plan macht ihn aus meiner Sicht selbstbewusster. Er hat Vertrauen in sein Training und das Bike und all diese Dinge ergeben zusammen einen starken Fahrer. Aber auch Ken Roczen und Eli Tomac sind keine Schnecken! Um sie zu schlagen, muss er alles geben. Coop konnte sich aufgrund weniger Fehler, besserer Starts und einiger anderer Faktoren vor ihnen halten. Einen Plan zu haben, hat ihm auf jeden Fall Selbstvertrauen eingeflößt. Ich erinnere mich noch daran, wie wir vor einigen Jahren mit Ricky Carmichael in einem anderen Team zusammengearbeitet haben und dasselbe Gefühl hatten. Wir sind überzeugt davon, dass wir bei jedem Rennen gut abschneiden und um den Sieg mitkämpfen werden. Bis jetzt hat er fünf der letzten sieben Rennen gewonnen und die beiden anderen auf dem 2. Platz beendet. Eine fantastische Statistik!

Webb hat es auf den Titel abgesehen
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Macht es dich stolz, diese Entwicklung bei Cooper mitzuverfolgen?

Ja, und seine Stärke kommt daher, dass er einfach ein unglaublich guter Fahrer ist. Er wird im Laufe des Rennens kontinuierlich stärker. In der Hitze des Gefechts, wenn er das Letzte aus sich herausholen muss, bleibt er dennoch ruhig und berechnend. Nicht viele andere Fahrer sind dazu fähig. Das kann man nicht lernen oder lehren. Das muss man in sich haben.

Marvin Musquin ist bereits seit über einem Jahrzehnt Teil des Red Bull KTM Factory Racing Teams
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Man hört, dass Aaron Plessinger dem Team beitreten und dass Marvin Musquin eine weitere Saison dabei bleiben wird. All dies wird zweifellos bald bekanntgegeben werden, aber welches Gefühl hast du damit, dass ihr vielleicht bald mit drei Fahrern in der Königsklasse antreten werdet?

Drei Fahrer wären sicher eine Herausforderung. Ich finde, dass es großartig ist, dass die KTM-Motorsportabteilung Marvin für ein weiteres Jahr verpflichten will, da er seit mehr als einem Jahrzehnt einen fantastischen Job macht. Die Realität ist aber, dass jüngere Fahrer bald das Zepter übernehmen werden. Wir sollten uns da nichts vormachen und jemanden in der Hinterhand haben. Aaron ist einer dieser Fahrer und hat viel Potential. Einige Jahre lang konnten wir eigentlich nur einen Fahrer einsetzen, da der andere immer verletzt war. Einen dritten Fahrer zu haben, wäre vielleicht keine so schlechte Idee. Dann gibt es da noch Max Vohland und in allen Klassen Fahrer einzusetzen, ist eine der großen Herausforderungen in unserem Job.

Es war ein ungewöhnliches Jahr mit relativ leeren Stadien – Max Vohland fährt für Red Bull KTM Factory Racing in der 250SX Kategorie
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