Auf der Jagd nach dem weißen Tiger: Jordi Viladoms erzählt uns vom brandneuen Abenteuer des KTM-Rally-Teams

Nachdem das KTM-Rally-Team in Lima sensationell die ersten 3 und in Abu Dhabi die ersten beiden Podestplätze erringen konnte, ist es schon wieder READY TO RACE: Dieses Mal geht es auf noch nicht oft befahrene Pfade und hinein ins Unbekannte. „Das Unbekannte reizt mich“, so Team-Manager Jordi Viladoms. „Das ist grundsätzlich zwar gut, aber uns beschäftigt noch so manche Frage.”

Warum haben Mitglieder des Werks-Rally-Teams jüngst so viel Zeit in den russischen, mongolischen und chinesischen Botschaften der Welt verbracht? Warum hat sich das Assistenz-Team bereits am 20. Juni auf eine 2-wöchige Reise auf der Straße und mit der Fähre von Mattighofen über Finnland nach Irkutsk begeben (und warum dauert die Rückreise eine Woche länger)? Warum hat sich Jordi Viladoms in der letzten Zeit eingehend mit dem Terrain Sibiriens, der Mongolei und Ostchinas beschäftigt und ein paar Basisvokabeln der dort gesprochenen Sprachen gelernt? Warum hat das Team beschlossen, sich für die Dauer dieses Abenteuers einen Koch mit einem anderen Team zu teilen, und warum wurden zusätzliche Dosen Thunfisch im Truck gebunkert? Warum können wir das Ergebnis des Rennens dieses Mal nicht mit mehr Genauigkeit voraussagen? Die Antwort lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Silk-Way-Rally – und zum ersten Mal in ihrer Geschichte sind auch Motorräder bei der Party dabei.

Jordi Viladoms (ESP) 2019 © Sebas Romero

Grüße aus Sibirien
Zum letzten Mal hat sich das Rally-Team im Jahr 2009 einer ganz neuen Herausforderung gestellt, als die Rallye Dakar nach Südamerika übersiedelte. In diesem Jahr stehen aber mehrere Besonderheiten auf der Speisekarte des internationalen Rally-Raid-Zirkus: für die Teams und die Team-Manager gleichermaßen. „Die schwierigsten Seiten des Rennsports sind immer noch die aufregendsten“, sagt der KTM-Rally-Team-Manager. Für einen ehemaligen Rally-Raid-Fahrer und Dakar-Teilnehmer ist ein neues Rally-Abenteuer das Beste, was man sich erträumen und wünschen könnte. Die jüngeren Ausgaben der Rallye Dakar ließen diesen Aspekt manchmal etwas vermissen – ihre nächste Ausgabe in Saudi-Arabien und die bevorstehende Silk-Way-Rally mit Sicherheit nicht. Das orangefarbene Team hat gerade die technische und administrative Abnahme in Irkutsk, Sibirien, bestanden. Die Rennaction in den Fußstapfen von Marco Polo beginnt am Folgetag.

Ein kleines Stück Geschichte
Am Anfang war die Seide. Die Silk-Way-Rally hat ihren Namen von der Seidenstraße. Der edle Stoff führte einst dazu, dass sich Handelsrouten zu einem transkontinentalen Handelsnetzwerk fügten. Obwohl Marco Polo selbst nie von einer „seidenen“ Straße sprach, wird die Seidenstraße oft mit ihm in Verbindung gebracht. Auf Marco Polo angesprochen, antwortet der 39-jährige Katalane: „Er war klug und konnte sich gut anpassen. Er machte sich einen Namen und wurde mit seinen Reisen sogar berühmt. Wir unterscheiden uns nicht so sehr von ihm, außer dass wir ein bisschen schneller reisen.“ Schon immer lockte die Menschen die Herausforderung, diese wilden Länder mit ihren dichten Taiga-Wäldern, endlosen Steppenlandschaften und der legendären Wüste Gobi zu durchqueren. Lange vor der ersten Silk-Way-Rally im Jahr 2009, welche von Kazan in Russland nach Ashgabat in Turkmenistan führte, gab es ein anderes, viel längeres Rennen. Das Peking-Paris-Rennen wurde als Automobil-Rennen ins Leben gerufen, führte von Peking nach Paris, und wurde 1907 zum ersten Mal ausgetragen. Der spätere Sieger, der italienische Prinz Scipione Borghese, brauchte für die unglaubliche Strecke von 15.000 km zwei Monate. Er startete am 10. Juni bei der französischen Botschaft in Peking und kam am 10. August in Paris an. Die Veranstaltung wurde als vollwertiges „Malle-Moto“-Rennen abgehalten: Kamele trugen den Kraftstoff und ganz nebenbei machte der Prinz einen kleinen Ausflug nach St. Petersburg. Heinz Kinigadner, der 1995 die Paris-Moskau-Peking-Rally gewann, konnte sich solche Abstecher natürlich nicht leisten.

White Tiger Trophy
Zurück zur Silk-Way-Rally … In den nächsten drei Jahren wurde die Rally exklusiv in Russland veranstaltet. Nach einer Pause von drei Jahren verlief die 2016er-Ausgabe von Moskau nach Astana und Peking. Im Jahr 2017 starteten die Teilnehmer in Moskau und fuhren in Xi’an in China über die Ziellinie. Im letzten Jahr wurde die Silk-Way-Rally in zwei Abschnitte – einen russischen und einen chinesischen – geteilt und die internationalen Teams versuchten, auf der Route von Astrakhan nach Moskau die beste Zeit zu erreichen. In diesem Jahr durchqueren die Teilnehmer drei riesige Länder. Außerdem sind heuer zum ersten Mal Motorräder zugelassen. Und während der italienische Prinz für seinen Sieg damals eine Magnum-Flasche Champagner überreicht bekam, winkt dem Gewinner der Silk-Way-Rally die White Tiger Trophy. Dieses Meisterwerk wurde von Denis Simachev, dem berühmten russischen Modedesigner, entworfen. In der chinesischen Mythologie steht der weiße Tiger für Mut und eine starke Seele – um diese Trophäe zu erringen, werden die Teilnehmer beides brauchen.

Silk Way Rally

Kopfüber ins Ungewisse
Die offiziellen Zahlen zur Silk-Way-Rally 2019: 5.000 Kilometer (5.007,96 um genau zu sein), 2.593,15 Sonderprüfungs-Kilometer, 10 Sonderprüfungen, 3 Länder. Auf dem Papier erinnern sie an die Dakar, wie sie vor Jahren einmal war, aber Jordi Viladoms, dessen erste Aufgabe die Dakar 2019 war, ist der Meinung, dass man diese Veranstaltung nicht mit dem „härtesten Rennen der Welt“ vergleichen sollte. „Natürlich liegt es nahe, die beiden Rennen gegenüberzustellen. Ich glaube aber, dass die Silk-Way-Rally ein Rennen mit einer ganz eigenen Identität, einem anderen Charakter und anderen Herausforderungen ist. In erster Linie ist es für uns aber ein Sprung ins Ungewisse. Die größte Herausforderung wird darin bestehen, uns so schnell wie möglich an all die unbekannten Faktoren anzupassen: an das Terrain, das Wetter, die Biwaks, die Menschen, die Organisatoren und sogar das Essen. Wir haben gehört, dass das Essen hier … interessant sein soll. Wir müssen flexibel sein und schnell dazulernen.“

Drei Fahrer – eine Mission
Die 2019er-Ausgabe der Dakar hat ihre Opfer gefordert und so werden zwei Kämpfer bei diesem Abenteuer im fernen Osten nicht dabei sein können: Toby Price und Matthias Walkner haben sich von ihren Operationen noch nicht völlig erholt. „Wir treten bei der Silk-Way-Rally mit Sam Sunderland, Luciano Benavides und Laia Sanz an“, erklärt Jordi Viladoms. „Matthias und Toby sind zurzeit noch nicht in der Lage, Rennen zu fahren, und werden erst bei der Atacama-Rally im September zu uns stoßen. Für Laia ist es die erste Rally des Jahres seit ihrer mutigen Vorstellung beim diesjährigen Erzbergrodeo. Sam und Luciano sind in bestechend guter Form und hungrig auf den Sieg. Nach nur einem Meisterschaftsrennen liegen die beiden auf Platz 1 und 2 in der Weltmeisterschaft. Alle drei sind Kämpfer durch und durch und dazu in der Lage, ein langes Rennen durchzustehen.“

Raus aus der Komfortzone
„Das schwierigste Rennen der Meisterschaft hat noch einen weiteren interessanten Aspekt“, fährt er fort. „Aufgrund seiner Länge ist die Punktevergabe anders. Statt der üblichen 25 bekommt der Sieger 37,5 Punkte. Wir reden hier von eineinhalb Rennen – es ist also immens wichtig, auf einem guten Platz anzukommen. Die Cross-Country-Rallies-Weltmeisterschaft hat dieses Jahr ein neues Konzept: Es gibt nur vier Rennen, dafür aber mehr Abwechslung. Meiner Meinung nach war es klug, die Silk-Way-Rally in den Kalender aufzunehmen; sie wird die Disziplin stärken und sie an ihren Ursprung zurückbringen. Eine der Grundlagen des Rally-Raid-Sports ist es, das Bekannte hinter sich zu lassen, und diese Rally führt uns garantiert weit ins Unbekannte hinein. Unser Assistenz-Team musste zum Beispiel 14 Tage lang reisen, um nach Irkutsk zu gelangen und wird für die Heimreise von China sogar drei Tage länger brauchen. Auch unsere Visa zu bekommen war kein Zuckerschlecken. Für manche in unserem Team war der Weg zur chinesischen Botschaft die erste Sonderprüfung der Silk-Way-Rally.“

Sam Sunderland (GBR) & Luciano Benavides (ARG) KTM 450 RALLY 2019 © Rally Zone

Wie man sich auf das Unbekannte vorbereitet
„Ich studierte die Geschichte des Rennens und versuchte, zu verstehen, was in den letzten Jahren so passiert ist, und sah mir auch die Route ganz genau an. Theoretisch bin ich über die Herausforderungen, die uns erwarten, im Klaren. Aber natürlich zeigen diese oft erst dann ihr Gesicht, wenn man vor Ort ist. Abgesehen davon gibt es noch einen weiteren interessanten Punkt: Wir werden Länder besuchen, über deren Kultur wir absolut nichts wissen. Ich habe versucht, ein paar Basisvokabeln zu lernen, kann aber nicht garantieren, dass mich die Menschen verstehen werden. Diese neue Rally ist ein völlig neues Abenteuer. In diesem Sinne erinnert sie mich schon an die afrikanischen Dakar Rallyes und ihre endlosen, unbekannten Wüsten. Wenn es ein Rennen gibt, bei dem auch ich noch einmal antreten würde, ist es dieses.“

Die Route
Die erste Etappe (Etappenlänge: 255,53 km, Sonderprüfungslänge: 50,87 km) führt durch die Taiga Sibiriens, von Irkutsk zum ersten Rally-Biwak am Ufer des Baikalsees. Auf der zweiten Etappe (Etappenlänge: 413 km, Sonderprüfungslänge: 212,02 km) erreichen die Teilnehmer Ulan-Ude nahe der mongolischen Grenze. Die dritte Etappe (Etappenlänge: 691 km, Sonderprüfungslänge: 243 km) führt in Richtung der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar; die Rennfahrer müssen sich vor gefährlichen Schluchten in Acht nehmen. Bei der vierten Etappe (Etappenlänge: 476,96 km, Sonderprüfungslänge: 470,19 km) dreht sich alles um hohe Geschwindigkeiten in der Steppe. Auf der fünften Etappe (Etappenlänge: 364,59 km, Sonderprüfungslänge: 337 km) streifen die Fahrer die Wüste Gobi und erreichen auf ihrem Weg nach Mandalgovi eine Höhe von 1.600 Metern. Die sechste Etappe (Etappenlänge: 411,75 km, Sonderprüfungslänge: 408,17 km) führt nach Dalanzadgad und steht wieder ganz im Zeichen hoher Geschwindigkeiten auf den breiten Straßen der Steppe. Der siebte Tag ist ein Ruhetag im Stil der Silk-Way-Rally: Die Herausforderung des Tages wird sein, die chinesische Grenze zu überqueren, bevor die Meute nach einer Verbindungsetappe von 550,66 km die Stadt Bayinbaolige erreicht. Die achte Etappe von Bayinbaolige nach Alashan (Etappenlänge: 785,11 km, Sonderprüfungslänge: 326,6 km) ist die längste der Rally und die erste mit echten Sanddünen. Die Dünen werden auch der neunten Etappe (Etappenlänge: 501,2 km, Sonderprüfungslänge: 290,30 km) von Alashan nach Jiayuguan die richtige Würze verleihen. Die Rally geht am nächsten Tag in Dunhuang zu Ende. Die letzte Etappe (Etappenlänge: 556,66 km, Sonderprüfungslänge: 255 km) führt über schnelle Schotterstraßen und mit Vollgas zum Zieleinlauf am 16. Juli.

Schnell und schwierig
„Dank des kompakten Terrains wird diese Rally extrem schnell werden“, so der Team-Manager, der hinzufügt: „Die langen felsigen Abschnitte werden für die Bikes auch nicht ohne sein, besonders für die Räder. Da der Großteil der Rally auf Schotterstraßen stattfindet, wird die Startposition keine große Rolle spielen. Es gibt aber andere Herausforderungen, die man in Betracht ziehen muss. In den Wäldern wimmelt es zum Beispiel von wilden Tieren, die eine Gefahr für die Fahrer darstellen. Wir erwarten außerdem, dass die Hitze an vielen Tagen zum Problem wird, während uns an anderen Tagen Gewitter ins Haus stehen werden. Ich werde versuchen, immer zu wissen, was uns bevorsteht, und bestmöglich für den nächsten Tag vorzuplanen. Das ist mein Job als Sport-Manager. Auf meiner Visitenkarte steht Team-Manager. Trotzdem bin ich auch gleichzeitig ein Fahrer-Coach, wie ich es die letzten vier Jahre war. Insgesamt bin und bleibe ich wohl immer ein ehemaliger Rennfahrer, der wie meine Schützlinge für den Rally-Sport lebt. Aus diesem Grund sorge ich mich um die kleinsten Dinge, die meinen Fahrern zustoßen könnten, während ich gleichzeitig versuche, das große Ganze zu sehen. Und so sind wir hier in Sibirien und das Team ist so stark und motiviert wie immer. Es ist bereit, alles zu geben, wie eine Familie zu agieren, einem gemeinsamen Ziel nachzujagen und denselben Traum zu leben.“

Luciano Benavides (ARG), Sam Sunderland (GBR) & Jordi Viladoms (ESP) 2019 © Rally Zone

Fotos: Sebas Romero | Rally Zone