AUF DER SUCHE NACH MINIMALEN (UND WICHTIGEN) MOTOGP GAINS

Die Abstände in der MotoGP™ sind kleiner als je zuvor. In einem Sport, bei dem die Bikes bereits an den Grenzen der Physik kratzen, handelt es sich um Bruchteile einer Sekunde. Wir haben den Team Manager von Red Bull KTM Factory Racing, Francesco Guidotti, gefragt, wie schwierig es ist, Fahrern, die bereits alles geben, dabei zu helfen, die entscheidenden Hundertstel gutzumachen …

Das Red Bull KTM Factory Racing Team beim Test unter dem wachsamen Auge von Francesco Guidotti am Pertamina Mandalika Circuit Anfang des Jahres.
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0,3, 0,8, 0,2 Sekunden. Bei mindestens drei der ersten sechs Rennen der MotoGP-Saison 2022 trennten diese Bruchteile einer Sekunde den Zweitplatzierten vom höchsten Platz auf dem Podest. Solche Abstände sind aber nicht nur beim Kampf um die Podestplätze an der Tagesordnung, sondern auch in den Top-10 sowie bei der Entscheidung, wer es in das 2. Qualifying und weiter auf einen der begehrten Startplätze in den ersten 3 Reihen schafft. Das Streben nach dem entscheidenden Vorteil bei so geringen Zeitabständen rechtfertigt entsprechend kleine Verbesserungen und hat in den letzten drei Jahren zu Innovationen wie Holeshot-Devices, Fahrhöheneinstellung und „Scoops“ unter dem Hinterrad geführt. Die Fahrer mussten sich unterdessen an die neue Vielzahl und Komplexität von Schaltern und Hebeln gewöhnen. Einheitsreifen, Elektronik und ähnliche Systeme bei Bremsen und Aerodynamik (diese muss homologiert werden) verlagerten den Fokus wieder mehr auf die Fahrer, die nun versuchen, eine noch bessere Performance aus sich herauszuholen.

Die MotoGP™ wurde im Laufe der Jahre immer enger, so können kleinste Unterschiede in der mentalen Stärke eines Fahrers einen riesen Unterschied auf der Strecke ausmachen.
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Und genau hier liegen die Stärken des erfahrenen Francesco Guidotti. Der Italiener übernahm erst kürzlich die Leitung bei Red Bull KTM Factory Racing. Er ist nun für die Geschicke von Brad Binder und Miguel Oliveira verantwortlich, kann sich dabei aber auf zwei Jahrzehnte Erfahrung im Grand-Prix-Sport verlassen.

Guidottis Aufgabe besteht darin, die besten Elemente der Expertise rund um den Südafrikaner und den Portugiesen zu bündeln und sich auf die genauen Bedürfnisse der Fahrer zu konzentrieren, um jene Resultate zu erzielen, die KTM sich wünscht. Das Werksteam hat seit 2020 jedes Jahr Grand-Prix-Siege errungen und strebt nach Höherem.

„In der MotoGP ist der technische Aspekt natürlich nach wie vor der wichtigste, aber der Unterschied zwischen den Bikes wird immer geringer“, so Guidotti. „Die Bikes werden jede Saison schneller. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem Details eine gewichtige Rolle spielen und das Können des Fahrers jedes Jahr wichtiger wird.“

Team Manager Francesco Guidotti spornt Brad Binder in den letzten Momenten vorm Start noch einmal an.
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Müssen die Fahrer also mental stärker sein als je zuvor? Ist das die nächste Grenze, die es im Elite-Motorsport zu knacken gilt?

FG: Ja, und die Fahrer müssen das erkennen und sich dessen bewusst sein. Bis vor ein paar Jahren war ihre körperliche Fitness wichtiger als die mentale, was verständlich ist, da die Bikes ihnen beim Fahren immer viel abverlangten. Dieser Aspekt – die Fitness – ist meist leichter zu akzeptieren und nachzuvollziehen, da die Fahrer merken, wie ihr Körper reagiert, und weil sie wissen, in welchen Bereichen sie stärker oder schwächer sind. Die mentale Seite ist aber nicht ganz so einfach zu verstehen. Die Fahrer müssen natürlich Selbstvertrauen haben, aber wie viel? Und wie? Besonders in schwierigen Momenten kann es hart sein, zu akzeptieren, dass andere Fahrer gleich schnell oder schneller sind. In der MotoGP können heute ein paar Millisekunden darüber entscheiden, ob du der Schnellste bist und dich auch so fühlst, oder ob du dich besch***en fühlst, weil ein anderer Fahrer um diese Millisekunden schneller ist! Unsere Aufgabe ist es, den Fahrern dabei zu helfen, mit solchen Momenten umzugehen.

Es ist bestimmt schwierig für dich, dieses Gleichgewicht zwischen Hochgefühl und Verzweiflung herzustellen, oder?

FG: Es ist nicht einfach, den richtigen Moment und die richtigen Worte zu finden, um gewisse Dinge zu erklären. Es ist sogar fast unmöglich. Alles, was man tun kann, ist, die Fahrer einigermaßen bei Laune zu halten und ihnen ein gesundes Selbstvertrauen einzuflößen – aber nicht zu viel. Wenn sie zu selbstbewusst sind, schieben sie Probleme immer auf die Technik oder das Bike oder jemand anderen in ihrem Umfeld: Ein gutes Gleichgewicht ist immer der beste Weg.

Miguel Oliveira marschiert aus der Box – entschlossen und Ready To Race.
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„Wahre Sieger schöpfen Energie und Motivation aus dem Druck. Das macht den Unterschied zwischen einem guten Fahrer und einem Champion aus. Anstatt sich davor zu fürchten, nehmen sie die Herausforderung an … und das sagt eine Menge über ihre Persönlichkeit aus.“

Francesco Guidotti

Wie verhilft man Menschen mit starkem Willen zu einer offenen Einstellung? Und wie überzeugst du sie?

FG: Zum einen kann man ihnen die technischen Daten des Bikes zeigen und ihnen erklären, was gut funktioniert, was schlecht ist und was besser sein könnte … zum Beispiel eine andere Linie oder ein anderer Umgang mit dem Gas, früher oder später zu bremsen. Der technische Input ist essentiell, aber er ist auch Teil des Gleichgewichts. Außerdem sind wir mit den Fahrern vier Tage lang zusammen und dann verschwinden sie für die nächsten zehn Tage wieder. Deshalb ist es wichtig, auch über große Distanzen und zwischen den Rennen Kontakt zu halten. Das ist deshalb so wichtig, weil wir alle ein Leben abseits des Rennsports haben wollen. Das eigentlich Schwierige ist, mit den Fahrern zu arbeiten, wenn sie zu Hause sind und nicht bei uns an der Strecke. Wir sehen ihre beste Performance, wenn sie an der Strecke sind … haben aber keine Kontrolle darüber, wie sie die Tage zuvor verbringen, und über Dinge, die ihre Performance beeinträchtigen können.

Der Druck ist enorm an der Spitze des Motorradrennsports – Photo: Brad Binder “elbow-down” beim ersten Rennen der Saison in Qatar.
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Das ist ganz schön viel Kontrolle. Liegt das daran, dass der Druck heute höher ist?

FG: Der Druck ist gewaltig. Vor zehn Jahren konnte man als Werksfahrer ein schlechtes Rennen trotzdem noch in den Top-5 beenden, da der technische Unterschied zwischen den Werks- und Privatteams in Sachen Bikes und Reifen erheblich größer war. Momentan sind die meisten Satellitenteams fast auf dem gleichen technischen Stand wie die Werksteams. Das macht die Sache schwieriger, die Abstände viel kleiner. Im letzten Jahr stellte ich für fünf aufeinanderfolgende Rennen eine Statistik auf. Der Abstand zwischen den einzelnen Fahrern zwischen dem 1. und dem 12. im 2. Qualifying lag bei 33 Millisekunden. Für uns und die Fahrer ist es extrem schwierig, zu sagen, der Fahrer hat hier einen Fehler gemacht oder das Bike funktioniert hier nicht gut. Die Situation hat sich in den letzten fünf Jahren so stark verändert und alle stehen unter größerem Druck. Am Ende aber sind es die Fahrer, die am meisten riskieren.

Ein starkes Mindset zu entwickeln ist der Schlüssel zu Spitzenleistungen – Photo: Miguel Oliveira höchst konzentriert in der Startaufstellung.
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Mentaltrainer und Sportpsychologen arbeiten schon seit Jahren im Hintergrund der MotoGP mit. Ist der psychologische Aspekt des Rennfahrens der nächste große Teil des Trainings, den es zu meistern gilt?

FG: Ich habe schon 2005 mit einem Mentaltrainer Kontakt aufgenommen und war davon mit der Zeit immer mehr überzeugt. Ich war der Meinung, dass diese Art des Trainings den Fahrern dabei helfen kann, konzentriert zu bleiben und Fehler auf diesem hohen Niveau zu minimieren. Sie sparen dadurch Energie und können Situationen und Details klarer analysieren. Es wird sicher zum nächsten großen Ding werden. In vielen Sportarten ist das schon an der Tagesordnung. Überall im Sport ist sowohl die körperliche als auch die mentale Fitness gefragt. In unserem Sport sehen viele den Motorradfahrer als ‚Machotypen‘, der kein mentales Training nötig hat. Aber das ist pure Ignoranz. Dieser Sport wird immer professioneller. Es ergibt keinen Sinn, das beste Bike zu haben und körperlich in Topform zu sein, wenn man seinen Kopf nicht auf dem gleichen Niveau benutzen kann. Deshalb sollte man auch daran arbeiten.