AUF DER WICHTIGSTEN BÜHNE DES SPORTS: BEIM MXON SCHLÄGT DAS HERZ JEDES MOTORSPORTBEGEISTERTEN HÖHER

Die 73 Jahre Geschichte, auf die das Motocross of Nations zurückblickt, machen das weltweit älteste und einzige Teamrennen auf abgesperrter Strecke zu einem Erlebnis, das an Atmosphäre im Motorsport seinesgleichen sucht.

Jorge Prado @RayArcher

Die Geert-Timmer-Tribüne in Assen erstreckt sich vom Ausgang der Ramshoek-Kurve entlang der Boxengeraden bis zur ersten Kehre. Auf ihr findet ein großer Teil der 60.000 Sitzplätze der berühmten Rennstrecke Platz.

Beim 2019er Motocross of Nations ist mehr als die Hälfte der Tribüne gefüllt. Die Hälfte der Besucher wird dabei nass. Sintflutartige Regenfälle gehen über einer der ältesten Motorsportanlagen Europas nieder und dennoch ist die Strecke in Drenthe die perfekte Wahl für das Motocross of Nations. Trugen die Niederlande doch im Jahr 1947 das erste MXoN aus (damals „Motocross des Nations“ genannt). Assen ist der Inbegriff einer modernen Motocross-Strecke: Ein temporärer Kurs, der aus tausenden Tonnen importiertem Sand erstellt wird und die permanente Infrastruktur, wie das Fahrerlager, die VIP-Lounges, das Media-Center und mehr, perfekt nutzt. Seit 2015 wird hier der niederländische Lauf des MXGP ausgetragen, aber das MXoN ist noch einmal etwas ganz anderes.

Jeffrey Herlings & Jorge Prado @RayArcher

Dafür, dass dieses Rennen (ohne Übertreibung) Fixpunkt für viele Fans ist, gibt es einen Grund – eigentlich sogar mehrere. Man muss sich nur die Flaggen und Kostüme ansehen und sich vor Augen führen, welche Anstrengungen die patriotischen Fans auf sich nehmen, und schnell wird klar, welche Bedeutung diese Veranstaltung hat. Die Leute werden vom einzigartigen Charakter des MXoN angezogen. Es gibt einfach nichts Vergleichbares. Typischerweise feuern Motorsportfans einen Fahrer oder eine Marke an, beim MXoN dagegen geht es um ihr Heimatland und darum, drei der besten Athleten (zwei auf 450ern und einen auf einer 250er) ihres Landes dabei zuzusehen, wie sie als Team um den Sieg kämpfen.

Drei „Motos“, fünf Wertungen (wobei die schlechteste gestrichen wird) und ein umgedrehtes Wertungssystem (1 Punkt für den 1. Platz und 40 für einen Ausfall) sorgen dafür, dass sich so mancher fragt, was da eigentlich passiert. In den letzten Runden des letzten, sich pausenlos ändernden Rennens purzeln die Podiumspositionen wild umher – oft erfahren die Zuseher den Endstand erst, nachdem alle Fahrer die Ziellinie überfahren haben. So ist es eine Mammutaufgabe, den Überblick über diese Veranstaltung zu behalten, jedoch kommt die Mehrheit der Besucher auch nicht deshalb hierher. Auf der Strecke geht es um den Wettstreit und die Ehre, aber auch abseits derselben findet man leidenschaftlichen Support und erbitterte Rivalität. Britische Fans feuern die Briten an, französische springen nur für französische Fahrer auf, die Letten schwenken lettische Fahnen und die Niederländer haut es nur dann aus den Holzschuhen, wenn ein Niederländer auf dem Weg zum Sieg ist. Und so weiter. Es geht um die Möglichkeit, seinen Nationalstolz mit exzentrischen Kostümen und Gesichtsbemalung in einem Sport zu zeigen und zu leben, bei dem kein Ball im Spiel ist. Manchmal kommt so etwas wie Karnevalsstimmung auf – fast wie bei einem Musikfestival. Die Atmosphäre ähnelt der bei einer FIFA-Weltmeisterschaft, bei der alle Teams an einem Tag zum Einsatz kommen. Die Medienpräsenz steht der eines durchschnittlichen MotoGP™-Rennens in nichts nach und auch die Präsenz der Hersteller kann sich für ein Motocross-Event sehen lassen.

Jorge Prado @RayArcher

Sehen wir uns das Format des Nations noch etwas genauer an, um weitere „Besonderheiten“ zu enthüllen: Bei diesem Event treten 250er gegen 450er an (es kommt sogar recht häufig vor, dass eine 250er den Sieg davonträgt), die bessere Startstrategie spielt eine wichtige Rolle (die Nummer-1-Fahrer starten von den Plätzen 1 – 20, die Nummer-2-Fahrer von den Rängen 20-40) und man kommt in den Genuss, eher „obskuren“ Motocross-Nationen wie Zypern und China dabei zusehen zu dürfen, wie sie sich mit übermächtigen Gegnern messen. Und dann ist da noch die schiere Länge der Starterliste. Länder wie Slowenien stellen vielleicht den aktuellen MXGP-Weltmeister, haben aber als Team gegen andere Länder mit einem schlagkräftigen Trio keine Chance. Dies war etwa bei Spanien der Fall: Jorge Prado, seines Zeichens Werksfahrer bei Red Bull KTM Factory Racing, war auf seiner KTM 450 SX-F zum ersten Mal in Assen dabei.

Der „Gastgebernation“ wird beim MXoN traditionell die meiste Aufmerksamkeit zuteil.

In Assen schlug die Stunde des niederländischen Teams. Mit Jeffrey Herlings, dem MXGP-Weltmeister 2018 von Red Bull KTM, einem der schnellsten Motocross-Fahrer der Welt, und Glenn Coldenhoff von Standing Construct KTM, hatten die Niederländer das Rennen in den letzten drei Jahren jeweils auf Platz 2 beendet. Erfolglos hatten sie jedes Jahr versucht, das französische Team zu entthronen, das seit dem lettischen Event 2014 alle fünf MXoNs gewonnen hatte.

Jeffrey Herlings @RayArcher

Überraschenderweise konnte die „Mannschaft in Orange“ das Rennen noch nie gewinnen. Außerdem war 2004 das letzte Jahr gewesen, in dem das MXoN in den Niederlanden ausgetragen worden war. Seit jenem Tag in Lierop hat es in Frankreich, Großbritannien, den USA, Italien, Belgien, Deutschland und Lettland Station gemacht.

Herlings und seine KTM 450 SX-F haben mit der Strecke in Assen gute Erfahrungen gemacht. Dreizehn Monate zuvor konnte er den dortigen Grand Prix gewinnen und vor einem begeisterten Publikum seinen ersten Weltmeistertitel in der Königsklasse fixieren (die vierte Krone seiner Karriere). Davor hatte er im weißen Sand dieser Strecke bereits die MX2‑Kategorie gewonnen. Auch Coldenhoff hat in diesem Terrain bereits Bekanntschaft mit dem Podium gemacht. Beide KTM-Fahrer kamen in Hochform zu diesem traditionellen Saisonabschuss: Herlings hatte die letzten beiden MXGP-Rennen in der Türkei und in China gewonnen und so ein von Verletzungen geprägtes Jahr 2019 versöhnlich beendet, während Coldenhoff mit fünf Podestplätzen und zwei Siegen in den letzten fünf Läufen die beste Saison seiner Karriere hingelegt hatte. Gemeinsam mit MX2-Fahrer Calvin Vlaanderen stellten sie das favorisierte Team, obwohl sich dank des miserablen Wetters und einiger Regeländerungen auch andere Nationen Hoffnungen auf den Sieg machen durften.

Glenn Coldenhoff @RayArcher

Auf seiner KTM 450 SX-F gelang es Coldenhoff als erst zweitem Fahrer der Geschichte, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zwei „Motos“ hintereinander zu gewinnen (letzten Sommer war er beim RedBud in den USA nicht zu schlagen gewesen) – eine Leistung, die vor ihm nur seinem ehemaligen Red Bull KTM Factory Racing-Teamkollegen Tony Cairoli gelungen war – in den Jahren 2012 und 2013 auf der KTM 350 SX-F. Die #259 war demnach der Star der Show, wobei aber Herlings erster Einsatz in Race1 der Höhepunkt eines düsteren und wolkigen Tages war. Der 25-Jährige kämpfte sich durch das Feld und unterlag am Ende dem Slowenen Tim Gajser um weniger als eine Sekunde. Seine Vorstellung spornte die niederländischen Fans zu Begeisterungsstürmen an und als Coldenhoff das zweite Rennen gewann (und Vlaanderen auf der 250er zweimal 10 Punkte holte), hatten die Niederländer vor ihrem letzten Einsatz einen komfortablen Vorsprung.

„Wir wussten, dass nur einer von uns beim letzten Rennen ins Ziel kommen musste“, so Herlings danach. „Als ich sah, dass Glenn in Führung lag, dachte ich ‚alles klar‘. Es nahm etwas Druck von mir, zu wissen, dass alle Fahrer in meinem Team für Klassensiege gut waren. Ohne allzu zuversichtlich zu klingen: Wir erwarteten, um den Sieg mitkämpfen zu können. Trotzdem musste erstmal alles gut laufen. Wir mussten schließlich auch noch schnell fahren – ich hatte aber nie Zweifel am Speed meiner zwei Mitstreiter. Wir haben in den letzten beiden Wochen viel trainiert und waren ziemlich schnell. Ich wusste, dass wir gute Chancen auf den Sieg hatten.“

Team Netherlands celebration @RayArcher

„Alle drei sind für sich alleine schon großartige Athleten, arbeiten aber auch als Team hervorragend“, so Team Manager Patrice Assendelft. „Dank des Wetters hätte an diesem Wochenende alles passieren können. Vor dem Wochenende war es fast wie ein Glücksspiel, aber die Jungs sind großartig gefahren. Das bedeutet eine Menge. Ich kann euch versichern – wir warten nicht wieder 70 Jahre oder so!“

„Die Bedingungen waren sehr schwierig und ich bin froh, dass wir es geschafft haben. Natürlich war es unser Ziel, zu gewinnen. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Letztes Jahr gewann ich beide Rennen beim RedBud, dieser Sieg war aber definitiv etwas Besonderes, weil er mir vor Heimpublikum gelang.“

Jeffrey Herlings @RayArcher

Herlings hat in Assen zwei Seiten des Triumphes kennengelernt: den egozentrischen und den selbstlosen. Für einen Menschen, der von individuellen Siegen lebt, ist der Sieg im MXoN eine merkwürdige Erfahrung. Die #84 gab zu Protokoll, mit seinen 2 und 4 Punkten „nicht sehr zufrieden“ gewesen zu sein. Allerdings sagte er auch, dass „wir hierhergekommen sind, um als Nation zu gewinnen, und das haben wir auch geschafft“. Was ist der Hauptunterschied zwischen einem MXGP-Weltmeisterschaftssieg und einem Triumph beim MXoN? „Circa 15 Grad und Sonnenschein“, meinte er schmunzelnd.

Im Jahr 1947 ging der erste Sieg an Großbritannien. Da war es nur passend, dass das Trio bestehend aus Adam Sterry, Red Bull KTM Factory Racing-Endurofahrer Nathan Watson (der ehemalige MXGP-Fahrer war in letzter Sekunde eingesprungen) und KTM-Fahrer Shaun Simpson (Gewinner des ersten GP der Niederlande in Assen 2015) von einem technischen Problem der französischen Mannschaft in der letzten Runde profitieren und den letzten Podiumsplatz hinter den Niederländern und Belgiern erringen konnte. Im unbarmherzigen Regen, der während des gesamten Laufes anhielt, kam es zu einem Drama, als Gautier Paulins Bike plötzlich nicht mehr weiter wollte.

Nathan Watson @RayArcher

Für die entthronten Champions können die nächsten zwölf Monate nicht schnell genug vergehen. Nächstes Jahr findet diese legendäre Veranstaltung auf der Strecke von Ernee in Nordfrankreich statt – dann werden allerdings die Niederländer die begehrten Startnummern 1, 2 und 3 tragen.

Bilder: KTM, Ray Archer