Can und Deniz Öncü: Zwillinge auf dem Weg zur Spitze

Das Einzige, was darauf hindeutet, dass die beiden Zwillinge sind, ist die Tatsache, dass derselbe Familienname auf den Verkleidungsscheiben ihrer beiden KTM RC 250 R zu finden ist. Die Brüder Can und Deniz ähneln sich kaum, was schnell klarmacht, dass die beiden nicht ein-, sondern zweieiige Zwillinge sind.

Deniz ist kurzgewachsen und wiegt kaum vierzig Kilo und wenn man es nicht besser wüsste, würde man schätzen, dass er wohl ein paar Jahre jünger ist als sein Bruder Can. Tatsächlich sind die beiden aber eben Zwillinge und somit praktisch gleich alt: beide feiern ihren Geburtstag Ende Juli. Can in einer Menschenmenge zu finden oder ihn von seinem Bruder zu unterscheiden, ist dagegen kein Problem. Er ist deutlich größer als Deniz und hat – im Unterschied zu seinem ‚kleinen Bruder‘ – einen prächtigen Haarschopf, den er unter seinen Sturzhelm zwängen muss.

Deniz & Can Öncü (TUR) Assen (NED) 2018 © Guus van Goethem

Abgesehen von den offensichtlichen körperlichen Unterschieden haben die beiden jedoch eines gemeinsam: eine starke Gashand. Mit beeindruckendem Talent und noch mehr Potential schicken sich Can und Deniz an, das GP-Fahrerlager im Sturm zu erobern, indem sie den Red Bull MotoGP Rookies Cup – die Talentschmiede des GP-Rennsports – aufmischen. Beide Türken befinden sich momentan in ihrer zweiten Saison in dieser Klasse, kontrollieren das Geschehen aber nach Belieben und zeigen viel Potential für zukünftige Erfolge.

Can konnte sein Können erst unlängst dadurch unter Beweis stellen, dass er sich den Titel in der Rookies-Meisterschaft bereits vor Saisonende beim GP von Misano unter den Nagel riss. Auch Deniz sollte man noch nicht abschreiben. Beim letzten Lauf in Aragon (21.-23. September) hat er noch die Chance, sich Platz 2 zu holen. In dieser Saison sieht es allerdings so aus, als ob Can der Mann sei, den es zu schlagen gilt. Dennoch darf man nicht vergessen, dass Deniz letztes Jahr den Asia Talent Cup – das asiatische Gegenstück zum Red Bull MotoGP Rookies Cup – für sich entscheiden konnte. Langsam ist er also auf keinen Fall.

Can Öncü (TUR) Assen (NED) 2018 © Guus van Goethem

In Lauerstellung
Trotz ihres offensichtlichen Talents sind die beiden Brüder aus der Türkei den wenigsten Fans des Motorrad-Rennsports ein Begriff. Das sollte sich aber schnell ändern. Früher oder später wird man das Duo wohl in der Moto3-Weltmeisterschaft sehen. Die FIM hat die Regeln geändert, um Can zu ermöglichen, bereits nächstes Jahr in die Moto3 aufzusteigen. Da er zum Saisonstart im März erst fünfzehn Jahre alt sein wird, könnte der Champion des Red Bull MotoGP Rookies Cup 2018 sonst nicht an der GP-Weltmeisterschaft teilnehmen. Die FIM nahm eine Ausnahme in ihre Regelbücher auf, die es dem Rookies Cup-Champion erlaubt, bereits mit fünfzehn seine Rennlizenz zu erlangen, genauso wie dem Gewinner der Moto3-Juniorenweltmeisterschaft, der ein Jahr früher als alle anderen aufsteigen kann. Die Brüder aus Alanya erwartet ein langer Weg, beide lauern aber bereits auf eine erfolgreiche Karriere im Motorsport und bis jetzt ist auch alles recht gut für sie gelaufen.

Die MotoGPTM ist für die Youngster zwar noch in weiter Ferne, bei ihrem Streben nach diesem Ziel können die beiden Türken aber auf die Unterstützung von Kenan Sofuoglu bauen. Als ihr Mentor arbeitet Sofuoglu – fünffacher Weltmeister der Supersport 600-Klasse – Tag und Nacht daran, den Öncü-Brüdern dabei zu helfen, Erfolge zu erzielen. Und das bezieht sich nicht nur auf persönliche Erfolge. Sofuoglu ist das Idol der türkischen Motorrad-Rennsport-Szene und ist als solches bemüht, die Türkei als Rennfahrernation bekannt zu machen. Um herauszufinden, welche Rolle die Öncü-Zwillinge in diesem Plan einnehmen, haben wir uns mit Can und Deniz getroffen und die Gedanken der beiden jungen und talentierten Fahrer zu hören, die in ein paar Jahren in der MotoGPTM fahren möchten.

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Deniz Öncü (TUR) Assen (NED) 2018 © Jarno van Osch/Shot Up Productions

Wie seid ihr beide zum Motorsport gekommen?
Can: „Als Kinder gingen wir auf dem Weg zum Büro unseres Vaters oft an einem Haus vorbei, vor dem zwei Minibikes geparkt waren. Wir träumten davon, diese beiden Bikes eines Tages gemeinsam fahren zu können. Und als wir vier Jahre alt waren, bekamen wir unsere ersten Bikes. Das war ein fantastischer Augenblick! Unser Vater hatte sie für uns gekauft. Anfangs fuhren wir die Minibikes nur zum Spaß und beendeten den Tag mit einem Grillabend. Irgendwann schlug uns ein Freund vor, an einem Rennen teilzunehmen. Deniz konnte nicht, da er verletzt war, ich aber konnte teilnehmen. Ich gewann mein erstes Rennen und überrundete dabei die Nummer 2 gleich zweimal.“
Deniz: „Er übertreibt nicht. Er gewann wirklich mit einem solchen Vorsprung.“

Ist euer Vater jemals Rennen gefahren?
Deniz: „Nein, niemals. Sagen wir mal so: Er war der schnellste Superbike-Fahrer der Gegend … aber Rennen – nein, ist er nie gefahren.“

Ist das Motorradfahren bei türkischen Jugendlichen beliebt?
Deniz: „Ziemlich beliebt, aber nicht so wie in Spanien. Das Problem ist, dass sie nicht genug trainieren, um wirklich Rennen fahren zu können. Wir schon. Wir stehen jeden Tag um sechs Uhr morgens auf, um zu trainieren. Andere Jugendliche tun das nicht. Die stehen um acht oder neun auf, essen ihr Frühstück und gehen in die Schule. Und wenn sie von der Schule nach Hause kommen, spielen sie Videospiele. Selbst wenn sie sich für Sport begeistern, verschieben sie den meist auf das Wochenende. Mit einem solchen Zugang wird man niemals so gut werden, wie man möchte.“

Über welchen Weg seid ihr in den Red Bull MotoGP Rookies Cup aufgestiegen?
Can: „Wir begannen mit Motocross und wechselten dann zu Supermoto. Vor vier Jahren wechselten wir dann in den Straßenrennsport, genauer gesagt in den türkischen NSF100 Cup und den R3 Cup. Von dort stiegen wir in den Asia Talent Cup auf und seit letztem Jahr fahren wir auch im Red Bull MotoGP Rookies Cup.“

Aus welchem Grund seid ihr nicht bei Motocross oder Supermoto geblieben?
Can: „Dafür gab es zwei Gründe. Der erste hat mit Geschwindigkeit zu tun. Je höher die Geschwindigkeit, desto größer der Adrenalinkick. Sicherheit war der zweite Faktor. Wenn du im Motocross-Sport einen Unfall hast, brichst du dir eigentlich fast immer etwas. Auf Asphalt ist das nicht so ein großes Problem. Wir werden von unserer Ausrüstung gut geschützt und ein Unfall bedeutet meist, dass du dahinschlitterst, was normalerweise recht glimpflich ausgeht. Highsider sind natürlich eine ganz andere Geschichte.“

Ihr fahrt also nicht mehr Motocross, weil euch das Verletzungsrisiko zu groß ist?
Deniz: „Ja, es ist einfach zu gefährlich. Wir fahren fast alle zwei oder drei Wochen ein Rennen und wenn wir uns beim Motocross-Fahren einen Knochen brechen würden, müssten wir erstmal pausieren. Das würde uns dann viele Meisterschaftspunkte kosten und vom Zuhause-herumsitzen werden wir auch keine besseren Fahrer. Im Winter fahren wir manchmal Supermoto. Und auch nur, um das Driften zu üben und unser Gleichgewicht zu trainieren. Im Sommer konzentrieren wir uns auf das Training im Fitnesscenter, das Laufen und das Radfahren.“

Can & Deniz Öncü (TUR) KTM RC 250 R Assen (NED) 2018 © Jarno van Osch/Shot Up Productions

Gibt es in der Türkei genug Rennstrecken zum Trainieren?
Can: „Leider nicht und das ist ein großes Problem. Istanbul Park ist die einzige Strecke in der Türkei, auf der ein GP ausgetragen werden könnte, und selbst dort können wir nicht fahren, weil die Strecke pausenlos an die Auto-Rennfahrer vermietet ist. Kenan Sofuoglu hat eine kleine Strecke, auf der wir manchmal trainieren.“

Apropos Kenan: Ist es wahr, dass er euch dazu überredet hat, zum Straßenrennsport zu wechseln?
Can: „Das ist richtig. Vor etwa vier Jahren hat er uns in den Straßenrennsport gebracht. Hauptsächlich aufgrund der Sicherheit, aber wie sich herausstellte, war der Wechsel auch insgesamt eine gute Sache.“
Deniz: „Kenan betreut uns noch immer. Wir können ihn immer anrufen, wenn wir ein Problem haben – egal, worum es sich handelt. Er ist ein guter Freund und wünscht uns vor jedem Rennen alles Gute. Außerdem können wir so viel von ihm lernen – schließlich ist er ein fünffacher Weltmeister. Er ist einfach unser Held und das ist er auch für viele anderen Türken.“

Auch in der Superbike-Weltmeisterschaft fährt ein junger Türke, Toprak Razgatlioğlu. Gibt es noch weitere, mit denen wir rechnen sollten?
Can: „Momentan nicht. Keiner trainiert hart genug, um es in der Türkei bis ganz nach oben zu schaffen. Natürlich hoffe ich, dass es mehr Jungs bis auf Weltmeisterschaftsniveau schaffen, bislang gibt es dafür aber keine Anzeichen.“

Für dich ist harte Arbeit der Schlüssel zum Erfolg? Für junge Menschen wie dich muss es hart sein, die nötige Disziplin aufzubringen.
Can: „Glücklicherweise werden wir von unserem Vater unterstützt. Er stellt sicher, dass wir immer unser Bestes geben. Sogar dann, wenn wir keinen Bock haben, hahahaha. Er treibt uns an, immer 100% zu geben.“

Bekämpft ihr euch auf der Rennstrecke immer noch, obwohl ihr Zwillinge seid?
Deniz: „Natürlich. Obwohl er mein Bruder ist, werde ich immer versuchen, ihn zu schlagen. Und umgekehrt. Wann immer es möglich ist, versuchen wir aber auch, uns gegenseitig zu helfen. Wenn meine Rundenzeiten zu langsam sind, gibt mir Can Tipps, und ich helfe ihm, wann immer er Hilfe braucht.“
Can: „Ich möchte natürlich gewinnen, aber selbst wenn das außer Reichweite ist und Deniz mich schlägt, kann ich mich trotzdem freuen. Das motiviert mich auch, das nächste Mal besser zu fahren und ihn zu besiegen.“
Deniz: „Und wenn er das tut, bin ich bereit, ihn beim nächsten Mal zu schlagen. So motivieren wir uns gegenseitig und wachsen gemeinsam, um irgendwann in der höchsten Klasse zu fahren.“

Körperlich könntet ihr unterschiedlicher nicht sein; welchen Effekt hat das auf dem Bike?
Deniz: „Alle glauben, dass ich aufgrund meines Gewichts und meiner Körpergröße einen Vorteil hätte. In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt. Mein Bruder wiegt ungefähr sechzig Kilo und das Bike wiegt etwa achtzig. Aus diesem Grund muss er sein Bike nicht künstlich beschweren, um das Mindestgewicht zu erreichen. Ich muss zwanzig Kilo an Ballast einbauen, weil ich nur vierzig Kilo wiege. Das ist immer ein Nachteil, weil man für all das Gewicht erstmal einen Platz finden muss. Außerdem hilft etwas mehr Gewicht dabei, das Bike zu dirigieren. Mehr Gewicht bedeutet auch mehr Muskelmasse.“

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Deniz Öncü (TUR) KTM RC 250 R Assen (NED) 2018 © Jarno van Osch/Shot Up Productions

Dass ihr beiden den Motorsport liebt, ist klar. Habt ihr aber noch andere Hobbys?
Can: „Wir fahren sehr gerne BMX. Nicht auf Wettkampfniveau, weil wir uns nicht verletzen wollen, sondern eher zu Trainingszwecken und zum Spaß. Wir nehmen auch an keinen Rennen teil. Außerdem schwimmen wir viel, weil es ein gutes Training ist und entspannt. Für meinen Bruder ist Laufen das Größte, aber ich finde es nicht so toll. Ich glaube, dass er es so großartig findet, weil er mich beim Laufen schlagen kann. Ich aber bin auf dem Fahrrad schneller. Weshalb ich das Fahrradfahren super finde.“

Man hat das Gefühl, dass ihr alles zusammen macht.
Can: „So ist es. Wir teilen uns sogar ein Schlafzimmer. Wir sind 24 Stunden am Tag zusammen.“

Das wird sich in fünf Jahren wohl ändern, wenn ihr beide Freundinnen habt?
Deniz: „Keine Ahnung. Momentan denken wir noch nicht an Freundinnen. Nur an Bikes. Um die dreht sich unser Leben momentan.“

Ihr fahrt beide im Red Bull MotoGP Rookies Cup und in der Moto3-Juniorenweltmeisterschaft. In beiden Klassen seid ihr auf KTMs unterwegs; gibt es große Unterschiede zwischen den beiden Bikes?
Can: „Das Red Bull KTM Ajo-Bike ist ganz anders als das Rookies-Bike. Am Ajo-Bike kannst du alles verändern und anpassen. Damit ist es viel einfacher zu fahren als die KTM, die wir im Rookies Cup verwenden. Natürlich besteht bei so vielen Einstellmöglichkeiten auch die Chance, dass du das Setup verpatzt. Glücklicherweise haben wir ein tolles Team im Rücken, das anhand vieler Daten wieder alles ins Lot bringen kann. Jeder Einsatz hilft uns, das Setup des Bikes besser zu verstehen, was sicher eine große Hilfe sein wird, wenn wir in unserer Karriere aufsteigen.“

Was ist euer größter Traum? Ihr beide als Werksfahrer bei KTM in der MotoGPTM?
Deniz: „Das wäre natürlich fantastisch. Wir versuchen aber, uns nicht mit solchen Träumereien zu befassen. Wir setzen uns kleine, erreichbare Ziele; auf diesem Weg machen wir schneller Erfolgserlebnisse. Wenn du dir ein kaum erreichbares Ziel setzt, kann das nur böse enden. Deshalb konzentrieren wir uns auf den nächsten logischen Schritt: die Moto3.“
Can: „Als Zwillinge ein MotoGPTM-Fahrerteam zu bilden, wäre aber natürlich ein Traum. Ich glaube, dass uns das beide enorm stolz machen würde.“

Deniz & Can Öncü (TUR) Assen (NED) 2018 © Guus van Goethem

Fotos: Jarno van Osch/Shot Up Productions | Guus van Goethem