Carl der Kleine

Um den Supercross-Sport in Deutschland ist es nicht gut bestellt. Es fehlen Piloten von internationalem Format. Das könnte sich ändern – mit Carl Ostermann. Der Zwölfjährige wird von Cross-Legende Collin Dugmore zum Supercross-Spezialisten ausgebildet.

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Collin Dugmore erinnert sich noch gut, wie das damals ablief, vor sieben Jahren, als ihn ein gewisser Herr Ostermann anrief und bat, er möge sich bitte seinen Sohn Carl anschauen. Dugmore fuhr zu den Ostermanns nach Bonn, klingelte, ein kleiner Steppke öffnete die Tür, dann ging es ungefähr so weiter:

„Hallo, wer bist du denn?“, fragte Dugmore.
„Carl.“
„Du bist Carl?“
„Ja.“
„Aber … du bist doch viel zu klein. Du kannst noch gar nicht Motorrad fahren.“
„Doch, kann ich.“

Collin Dugmore, fünfmaliger Deutscher Meister, hat im Motocross schon viel gesehen. Aber dieser Dreikäsehoch, der da vor ihm stand, sollte ein Cross-Motorrad lenken können? Man ging zusammen in den Garten, Carl gab Gas und brauste derart flott im Kreis, dass Dugmore kaum seinen Augen traute. „Ich war beeindruckt“, sagt Dugmore. Seither kümmert er sich als Fahrer-Coach um den kleinen Carl. Er soll ihm die richtige Technik beibringen. Die Supercross-Technik. Denn darauf zielt Dugmores Ausbildungsprogramm ab: auf Supercross, nicht auf Motocross. Sowas gab es in Deutschland in dieser Form noch nie, dass ein junger Pilot gezielt auf Supercross getrimmt wird.

Carl Ostermann (GER) & Collin Dugmore (RSA) Dortmund (GER) 2017

Carl Ostermann (GER) & Collin Dugmore (RSA) Dortmund (GER) 2017

Dortmund am zweiten Januar-Wochenende. Das traditionelle ADAC-Supercross-Event. Die Westfalenhalle ist bis auf den letzten Platz gefüllt, die Show mit viel Laserlicht, Techno-Beats und Pyro beeindruckend. Wenn der Streckensprecher mal wieder heiß läuft und „Ich will Euch hören, Dortmuuuuuuund“ brüllt, dann steht die Halle Kopf. Alles prima also? Nicht ganz. Denn die deutschsprachigen Piloten haben bei ihrem Heimspiel wenig zu melden. In der höchsten Kategorie, der SX1-Klasse, dominieren Piloten aus den USA, Frankreich und England. Der ein oder andere von ihnen wurde für eine fünfstellige Summe nach Dortmund gelockt. Sie sind allesamt Supercross-Spezialisten. Aber wo sind die Supercross-Spezialisten aus dem deutschsprachigen Raum? Gibt es nicht. Hierzulande konzentrieren sich Cross-Piloten lieber auf den klassischen Outdoor-Motocross-Sport, mit den typischen Supercross-Sektionen wie Waschbrett und 3er-Sprungkombinationen fremdeln sie. Aber unten im Dortmunder Fahrerlager läuft man geradewegs auf die Zukunft zu. Zuvorderst, gleich am Eingang und schön mittig, steht das Zelt von Carl Ostermann. Die KTM fein säuberlich aufgestellt, davor ein Tisch mit Postern und dahinter sitzt Carl und gibt Autogramme. Er schreibt nur „Carl“ und „10“, seine Startnummer. Den Nachnamen, findet Carl, braucht es nicht. Der WDR ist auch da, erst Interview mit Dugmore, später mit Carl. Reift hier das Talent, welches den deutschen Supercross-Sport aus der Bedeutungslosigkeit holen kann?

In der 50er- und 65er-Kategorie war Carl der Überflieger. Vier Mal gewann er in Dortmund die Kids-Klasse SX4. Jetzt aber ist Carl aufgestiegen, eine Klasse höher, SX3, 85 Kubikzentimeter. Da ist er mit seinen zwölf Jahren einer der Jüngsten im Feld. Manche seiner Gegner sind 15 und entsprechend größer und stärker gebaut. Das ist in einem Sport wie Supercross, wo die Physis eine immens wichtige Rolle spielt, ein entscheidender Faktor. Carl hat körperliche Defizite“, sagt Collin Dugmore, aber er weiß auch um die Stärken seines Schützlings: „Carl hat eine ausgezeichnete Technik, seine Bike-Beherrschung ist klasse.“ Da erkennt man die Handschrift von Dugmore, einer Motocross-Legende, einst auch KTM-Pilot. Der Südafrikaner Dugmore wohnt seit vielen Jahren in Niederroßbach im Westerwald, sein Deutsch ist perfekt. Er betreibt die „Collin Dugmore Offroad Schools“. Motorsportclubs oder Rennteams können ihn verpflichten, dann kommt Dugmore und gibt sein Wissen an die jungen Piloten weiter.

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Dugmores besonderes Augenmerk aber gilt Carl Ostermann. Bei Carl reizt Dugmore die Aufgabe, einen Supercross-Spezialisten auszubilden. „Denn im Supercross“, sagt Dugmore, „musst du viel präziser fahren als im Outdoor-Motocross.“ Dugmore schwärmt von den großen Stars, drüben in den Staaten, von den Dungeys, Musquins und Roczens. „Da kannst du eine Münze auf den Boden legen, hinter einen 30-Meter-Sprung, die springen Runde für Runde exakt drauf.“ Dahin möchte er den jungen Carl auch bringen. Doch in Dortmund, dem deutschen Supercross-Saison-Highlight, tut sich Carl schwer. Platz 6 von 11 Fahrer im SX3-Feld, da haben sich Carl und sein Vater mehr erhofft.

Der 53-jährige Thorsten Ostermann betreibt diverse Krankenhäuser und Reha-Kliniken, die finanziellen Mittel, um für Carl die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, sind also gegeben. Er hat eine große Tennishalle gekauft, darin ließ er eine Supercross-Strecke einrichten, damit Carl vier Mal die Woche trainieren kann. Eine sechsstellige Summe koste ihn die Karriere von Carl pro Jahr, sagt Thorsten Ostermann, aber das sei gar nichts gegen die Reitkarrieren von Carls Schwestern Luise und Johanna. „Wenn Reiten so günstig wäre wie Supercross, würde es unserer Familie besser gehen“, sagt Thorsten Ostermann und lacht. Die Aufgabenteilung am Dortmund-Wochenende: Papa begleitet Carl, wie üblich, und Mama beaufsichtigt die beiden reitenden Töchter bei einem Sichtungsturnier. Die Ostermanns sind gut bekannt mit der Familie Riegel, Eigentümer des Süßigkeiten-Konzerns Haribo, ebenfalls in Bonn ansässig. So kommt es, dass Carl von der Haribo-Marke Maoam unterstützt wird. Keine Autogrammstunde von Carl ohne Maoam-Kaubonbons auf dem Auslagenteller. Manchmal kritzelt er sein „Carl, 10“ auf ein Bonbon. Für jene Fans, die noch jünger sind als er selbst.

Thorsten Ostermann (GER) & Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Thorsten Ostermann (GER) & Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

In diesem Jahr, so die Pläne von Papa und Collin Dugmore, wird Carl die französische Supercross-Serie fahren, die bereits im Sommer startet. Dann folgen die vier ADAC-SX-Cup-Rennen in Stuttgart, München, Chemnitz und Dortmund und ab Januar 2018 könnte es rüber gehen nach England zur dortigen Arenacross-Meisterschaft. Klingt nach einem anstrengenden Winter für einen Zwölfjährigen, der derzeit die siebte Klasse an der International School in Bonn absolviert. Die Schule wirbt mit dem Slogan „Excellence is our standard“ und dasselbe gilt gewissermaßen auch für den Anspruch, den Papa und Collin Dugmore an Carls Cross-Karriere haben. Carl nach seinem Vorbild zu fragen, erübrigt sich im Grunde. „Ken Roczen“, schießt es aus ihm heraus. Roczen, der Mann aus Thüringen, der vor Jahren in die USA auswanderte und in der dortigen AMA-Supercross-Serie zu den Topstars gehört.

Natürlich wissen Papa Thorsten und Coach Collin Dugmore, dass an Amerika kein Weg vorbei führt, wenn Carl im Supercross nach oben kommen soll. Aber sie wissen auch, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Ein langer Weg, bis aus Carl dem Kleinen vielleicht einmal Carl der Große wird.

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Carl Ostermann (GER) KTM 85 SX Dortmund (GER) 2017

Fotos: Steve Bauerschmidt