DAS BESTE LINE-UP ALLER ZEITEN: IST KTM IN DER MXGP 2020 ZU SCHLAGEN?

Cairoli, Herlings, Prado: Die MXGP-Fahrer von Red Bull KTM Factory Racing für die Saison 2020 haben zusammen 15 FIM-Weltmeistertitel in zwei Kategorien geholt. In der gesamten Geschichte des Grand-Prix-Sports hat es wohl noch nie ein höher dekoriertes, erfolgreicheres und schlagkräftigeres Team gegeben.  

Das Red Bull KTM Factory Racing MXGP Line-Up ist mit zusammen insgesamt 15 FIM Weltmeister-Titeln eine Klasse für sich.
PC @RayArcher

Vereinfacht gesagt repräsentiert Cairoli die Vergangenheit, Herlings die Gegenwart und Prado die Zukunft. Die drei haben sich jedenfalls zusammengetan, um 2020 das Podium zu stürmen.

Dass sich alle drei in der Saison 2020 auf einer KTM 450 SX-F ins Rennen werfen und in der MXGP um den Titel kämpfen werden, ist Tatsache. Cairoli hat seinen letzten Titel 2017 errungen, der erst 25-jährige Herlings ist bereits 10 Jahre im Grand-Prix-Sport unterwegs und Prado war nach seinen beiden aufeinanderfolgenden Titeln in der MX2 in den Jahren 2018 und 2019 laut Reglement zu einem Aufstieg gezwungen.

Herlings führt nach zwei Runden der MXGP-Weltmeisterschaft 2020, die vor Covid-19 stattfanden.
PC @RayArcher

Cairoli (mit 34 ist der Römer der zweitälteste Athlet in der MXGP), Herlings und Prado (25 und 19, in Rom/Belgien residierend) haben alle einen unterschiedlichen Stil und Ansatz. Während seiner Zeit in der 250er-Klasse galt Cairoli als Inbegriff der Extravaganz, entwickelte sich später aber dann zu einem der besten Allrounder des Sports und feierte eine überragende Erfolgsserie mit 89 Siegen (12 vom Rekord entfernt) und 162 Podestplätzen (5 von einem weiteren Rekord entfernt). Herlings ist eine Naturgewalt aus aggressivem Fahrstil, Kraft und einem unbändigen Siegeswillen. Bereits in der MX2 brach er reihenweise Rekorde und hatte auch in der MXGP-Saison 2018 einen unglaublichen Lauf mit 17 Siegen in 19 Rennen (bei den anderen beiden wurde er jeweils Zweiter) und 86 Gesamtsiegen im Laufe seiner Karriere. Prado ist vielleicht der beste Starter der heutigen Zeit, ging er doch in zwei Jahren bei der Hälfte aller Rennen als Führender in die erste Kurve. Außerdem garantiert sein ruhiger und anmutiger Fahrstil, dass er immer konkurrenzfähig ist, dabei aber selten Fehler macht oder stürzt. Mit 31 Siegen ist er bereits jetzt Spaniens erfolgreichster Motocross-Fahrer aller Zeiten und der vielversprechendste Rookie des Jahres 2020.

Mit zwei MX2 Weltmeistertiteln in Folge will sich Prado nun in der MXGP einen Namen machen.
PC @JuanPabloAcevedo

Passenderweise wurde jeder Fahrer des Trios entweder von KTM aufgebaut oder half dabei, das Werksteam zu jenem zu machen, das sowohl in der MXGP (vormals ‚MX1‘) als auch der MX2 im vergangenen Jahrzehnt sieben Titel holen konnte. Das hat die ‚orangefarbene‘ Mannschaft zum absoluten Primus im Fahrerlager gemacht. „Wir haben an diesem Image gearbeitet und sind jetzt schon eine Weile das tonangebende Team in der MX2 und der MXGP, schließlich haben wir in beiden Klassen viele Titel gewonnen, manchmal sogar in derselben Saison“, so Team Manager und Technical Coordinator Dirk Grübel. Der Deutsche gehört seit den späten 00er-Jahren zum Team-Management. „Man gewöhnt sich daran, sollte es aber auch nicht als selbstverständlich erachten. Beide Titel in einem Jahr zu gewinnen, ist aber schon etwas Besonderes.“

Cairoli – der bereits seit elf Jahren für Red Bull KTM fährt – wurde 2010 unter Vertrag genommen und half mit, die KTM 350 SX-F zu entwickeln, die später als KTM 450 SX-F die Messlatte in der Kategorie wurde. Er gewann mit beiden Bikes die Meisterschaft. Herlings wurde als Jugendlicher unter die Fittiche des Werksteams genommen. Er gab als Fünfzehnjähriger sein GP-Debüt und gewann bereits nach drei Läufen sein erstes Rennen. Prados Geschichte ähnelt jener des Niederländers, er fährt aber schon seit seiner Pubertät für KTM und wurde über die 65er-, 85er- und 125er-Klasse bis in den Grand-Prix-Sport gebracht. Er kam bereits bei seinem ersten GP-Rennen auf das Podium und feierte in seinem ersten Jahr schon Siege, obwohl er erst 16 Lenze zählte.

Cairoli und Herlings kämpfen an vorderster Front in der Auftaktrunde der MXGP Saison 2020.
PC @RayArcher

Die Ergebnisse und Zahlen der drei lassen Großes erahnen. „Ich glaube nicht, dass es schon einmal ein vergleichbares Team gegeben hat – eines mit so vielen Titeln unter einem Dach. Das kommt nicht oft vor“, so Grübel. Wenn man diese Fahreraufstellung als ‚die beste‘ bezeichnet, schwingt dabei auch eine gewisse Subjektivität mit, die nicht nur auf Statistiken schaut. Es geht nicht nur um Perioden, die unterschiedlichen Erfordernisse, Techniken, Saisonlängen und Ausrüstungsstandards. Für viele, selbst bei KTM selbst, gibt es nur ein vergleichbares Beispiel.

„KTM ist heute so wie Honda in den 80ern“, sagt etwa KTM Motocross Manager Joel Smets, selbst Doppelweltmeister auf KTM. „Als ich als Kind das HRC-Lineup sah, fragte ich mich, wie es so etwas geben kann. Es war ein echtes Dream-Team.“

In den Jahren 1985 und 1986 beendete das Fahrertrio aus Dave Thorpe, Andre Malherbe und Eric Geboers die 500er-Weltmeisterschaft auf den Plätzen 1, 2 und 3. Nach dem Zugang von Jeff Leisk und Jean-Michel Bayle veränderte sich das Team. „Als das ursprüngliche Dreier-Team zusammengestellt wurde, hatten sie nicht viele Titel errungen, und Eric hatte weder bei den 250ern noch bei den 500ern gewonnen – er glaubte, dass er es allen anderen zeigen könnte, fiel aber ein paar Mal auf die Nase. Malherbe war Doppelweltmeister und Thorpe gewann in den Jahren 1985 und 1986“, erinnert sich Smets.

Cairoli’s erster GP war 2002 – seitdem gewann der Sizilianer neun Weltmeisterschaften.
PC @RayArcher

„In Sachen Image und Wettbewerbsstärke sind unsere Jungs meiner Meinung nach auf demselben Niveau. Natürlich sind Tony, Jorge und Jeffrey heute die absoluten Topstars, aber Malherbes Spitzname war ‚Mr. Hollywood‘! Es war kurz nach der Zeit der Lederkombis, als er bei einem Rennen im Schlamm ganz in Weiß antrat und auch im Ziel noch komplett weiß war! Eric Geboers war ein echter Star. Thorpe war mehr der Held der Arbeiterklasse und als Sportler respektiert, aber ich glaube, dass Geboers und Malherbe vom Prestige her locker mit Tony und Jeffrey mithalten können. Ich war zu jener Zeit Zuschauer und vielleicht bin ich nicht in der Lage, ein objektives Urteil abzugeben, weil ich heute alles von der anderen Seite betrachten kann. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass es jemals ein stärkeres Line-Up als unseres hier bei Red Bull KTM gegeben hat. Yamaha hatte Donny Schmit und Alex Puzar und später Stefan Everts und Marnicq Bervoets, aber selbst die können diesen Jungs nicht das Wasser reichen.“

Andere Mitglieder der Red Bull KTM-Mannschaft meinen, dass die Fahrer selbst wohl nicht genug Abstand oder Perspektive haben, um ihren eigenen Platz in der Geschichte des Sports wahrnehmen zu können. „Ganz sicher ist es eines der besten Teams aller Zeiten“, sagt Herlings-Mechaniker Wayne Banks. „Sind sie sich darüber im Klaren? Ich glaube, dass sie sich zu stark auf ihren Job konzentrieren, und alle drei sind Gewinnertypen. Ein zweiter Platz zählt für sie nicht. Ich denke, dass sie ihre Stellung später realisieren werden, aber momentan sind sie zu beschäftigt.”

Heimvorteil für Herlings – der Niederländer kämpft sich durch den Valkenswaard Schlamm.
PC @RayArcher

Im Jahr 2018 fuhren Herlings und Cairoli gegeneinander um die MXGP-Krone; sie beendeten das Jahr als Erster und Zweiter und gewannen alle Läufe bis auf einen. In der MX2 wurde die Entscheidung um den Titel in den Jahren 2014, 2017 und 2018 unter Teamkollegen ausgemacht, Prado mischte dabei 2018 mit. Diese Schlachten gegen die Konkurrenz und die eigenen Teamkollegen brachte das ultimative Line-Up für 2020 hervor. „Man könnte das nicht einmal planen, selbst wenn man wollte“, so Grübel mit einem Lächeln. „Als Unternehmen ist es auch eine große Errungenschaft, diese drei Jungs unter einem Dach zu haben, von denen jeder für den Titel gut ist. Warum wir in gleich drei ‚Rennpferde‘ investieren? Es hat sich einfach so ergeben, aber im Rennsport weißt du ohnehin nie, was passieren wird. Tony fährt noch immer, Jeffrey ist auf seinem Zenit und man könnte sagen, dass Jorges Zeit erst noch kommt.“

Ein gelungener erster GP auf der KTM 450 SX-F für Prado nach seiner Verletzung im Winter.
PC @RayArcher

Der eigentliche Architekt hinter dieser Aufstellung war wohl Pit Beirer, selbst siebenfacher Grand-Prix-Sieger auf KTM und heutiger Motorsports Director, der alle drei unter Vertrag nahm. „Es ist wohl das beste MXGP-Line-Up, das wir je bei KTM hatten, und, wie Dirk bereits gesagt hat, kann man so etwas eigentlich nicht planen“, so der Deutsche. „Man kann eine Langzeit-Strategie haben, aber alle drei können die ändern! Es tut mir fast leid, das zu sagen, aber Tony ist immer noch großartig für einen Fahrer in seinen 30ern. Wir hatten erwartet, dass er abtritt, aber er ist wohl wie eine gute Flasche Rotwein. In der Mitte steht Jeffrey, von dem wir uns in der Klasse viel versprochen hatten. Leider ist es aufgrund seiner Verletzungen schwierig, mit ihm zu planen. Auf der anderen Seite haben wir Jorge. Ich glaube, dass niemand damit gerechnet hat, dass er wie eine Rakete durch alle Klassen fährt und als zweifacher Weltmeister 2020 in die MXGP einsteigt. Diese Zusammenstellung war also nicht geplant, wir sind aber natürlich sehr zufrieden. Jetzt sollten wir alle versuchen, gesund zu bleiben, und hoffen wir, dass die Saison bald beginnen kann.“

Während die drei Fahrer sich auf der Strecke im Jahr 2020 nur zweimal begegnet sind, wird dem Trio auch außerhalb von KTM Tribut gezollt. So kommentiert etwa TV-Kommentator Paul Malin, selbst ehemaliger Grand-Prix-Sieger: „Man könnte sie etwa mit Suzukis Ära vergleichen, mit Joel Robert, Gaston Rahier, Eric Geboers oder Michele Rinaldi, und auch Hondas neun Titel mit ihren drei Fahrern von 1980 bis 1990 waren beeindruckend. Aber wenn es um ein einziges Team geht, hat Red Bull KTM klar die Nase vorn. Sie haben nicht nur drei herausragende Athleten, sondern auch zahlenmäßig muss man den Hut ziehen: Von ihren 15 Titeln gewannen sie 12 auf KTM und man kann wohl damit rechnen, dass in den nächsten Jahren noch ein paar dazukommen werden.

Cairoli hält noch immer den Blick Richtung Hauptpreis als Teil eines unglaublichen Red Bull KTM Factory Racing MXGP Line-Ups.
PC @RayArcher

In den 80er-Jahren war die 500er-Klasse so etwas wie die MXGP heute; die besten Fahrer und die besten Werke waren dabei“, so der legendäre französische Journalist Pascal Haudiquert, ein Mann, der den Grand-Prix-Sport seit Mitte der 70er-Jahre verfolgt und mehr als 500 Rennen als Medienvertreter kommentiert hat. „In dieser Zeit brachten die Werke maximal zwei Fahrer an den Start. Honda hatte drei der weltbesten damals. Seit dieser Zeit hatte aber kein Team ein so starkes Lineup wie KTM heute.“

Wie werden die kommenden Jahre KTMs einzigartige Aufstellung prägen? Die Jüngeren unter den MXGP-Fans haben Glück: Sie können sich heute an der Action erfreuen und später in Erinnerungen schwelgen. Bis die drei für die nächsten Flaggenträger Platz machen müssen.