Der neue Rohdiamant: KTMs neuer Motocross-Star

Tom Vialle kam praktisch aus dem Nichts, machte sich in der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft aber unfassbar schnell einen Namen als strahlender neuer Stern. Wie ist es dem 18-Jährigen gelungen, so in der Grand-Prix-Szene einzuschlagen? Wir haben nachgefragt

Tom Vialle (FRA) © Ray Archer

Seit der letzten Jahrhundertwende hat das Red Bull KTM-Team immer wieder die schnellsten und besten Fahrer der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft gefunden, ihnen zu Ruhm verholfen und von ihnen profitiert. Namen wie Townley, Rattray, Searle, Musquin, Cairoli, Roczen, Herlings, Tixier, Jonass und Prado reihen sich nahtlos in eine einzigartige Liste fantastischer Talente ein.

Im Jahr 2019 setzt das Weltmeisterteam mit den Werksfahrern Herlings, Cairoli und Prado weiterhin Maßstäbe. Als bekannt wurde, dass der 18-jährige Tom Vialle Pauls Jonass (der für seine erste Saison in der Königsklasse zu Husqvarna gewechselt ist) ersetzen würde, führte das zu viel Stirnrunzeln unter Fans und jenen, die die MXGP genau verfolgen. Ihrer Meinung nach wäre der junge Franzose – der mit zwei Rennsiegen in der EMX250-Europameisterschaft kurz für Aufsehen gesorgt hatte – als Teamkollege von Rene Hofer im KTM Junior Racing Team in der EMX besser aufgehoben gewesen. Der heiße Sitz in der MX2 neben Jorge Prado – einem Wunderkind, das (im Gegensatz zu Vialle) im Alter von 13 zum Werksteam stieß und von ihm aufgebaut wurde – ist einer der begehrtesten Plätze im Grand-Prix-Sport und sicherlich kein Ort für einen Debütanten.

Tom Vialle (FRA) KTM 250 SX-F Matterley Basin (GBR) 2019 © Ray Archer

Schnell, still und mit Nachdruck gelang es Vialle, diese Zweifel aus dem Weg zu räumen. In den ersten vier Läufen und seinen ersten vier Grand-Prix-Rennen konnte er bereits Rennen anführen, mit Holeshots beeindrucken und zwei Podestplätze erringen: Ergebnisse, die sich mit denen vieler Athleten in der Ahnengallerie von KTM messen können oder diese sogar übertreffen.

Ich wollte ihn unbedingt im Team haben, sagt Team-Manager Dirk Grübel. „Wir hatten einige Optionen und sogar ein paar Sichtungenanderer Fahrer. Am Ende ist es aber wichtig, dass man mit einer Person und ihrem Potential arbeiten kann. Ich war mit den Leistungen im Winter, seiner Entwicklung und der Art, wie er sich an das Team angepasst hat, sehr zufrieden: Es war schön mitanzusehen.

Red Bull KTM wählte Vialle, den Sohn des ehemaligen GP-Fahrers Frederic, aus einer kurzen Auswahlliste für 2019 aus. KTM MX Manager Joel Smets musste ihn nur einen Tag lang fahren sehen und mit ihm reden, um überzeugt zu sein, dass die Nummer 28 eine wertvolle Verstärkung für die Truppe sein würde. „Natürlich hatten wir ihn auch 2018 schon im Auge, ich sprach damals aber nicht viel mit seiner Familie …, gibt Smets zu. „Ich arbeite jetzt seit dem 1. September mit ihm und kann sagen, dass er körperlich eine gute Basis und viel Potential hat. Ich kann sehen, wie sich sein Körper nach dem Training erholt und dass es Spielraum für weitere Verbesserung gibt. Sein Stil ist gut, sehr gleichmäßig. Von außen meint man, er könnte ruhig noch etwas zulegen, aber dann sehe ich auf die Stoppuhr und denke aber hallo!‘“

Tom Vialle (FRA) & Joel Smets (BEL) Lacapelle Marival International Motocross (FRA) 2019 © P. Haudiquert

Vialle ließ seine Anpassungsfähigkeit bereits als Teil des Lieber KTM Teams in der EMX250 und einem privaten Husqvarna-Einsatz durchblicken. Dank der Unterstützung und der Mannschaft um ihn herum fing er schnell an, sich weiterzuentwickeln. „Im Lieber-Team hat er große Fortschritte gemacht, so Gruebel. „Ich erinnere mich daran, ihn Anfang 2018 auf einer Sand-Strecke gesehen zu haben. Damals war ich von seiner Leistung nicht so beeindruckt. Dann verbrachte er aber einige Zeit im Lieber-Team in Belgien und verschärfte sein Training. Danach gab es keine Probleme mehr egal, wohin wir ihn im Winter mitnahmen.

Wenn man Vialle fahren sieht, werden seine Technik und seine Fähigkeiten sofort augenscheinlich. In seiner ersten Saison könnten man seine zierliche, kleine Statur als Nachteil sehen. Realistischerweise ist sie das auch und das Team und seine Familie arbeiten bereits an seiner Ausdauer: „Der körperliche Aspekt ist wirklich wichtig und in der MX2 dauern Rennen 10 Minuten länger als in der EMX. Ich konnte im Winter viel mit Joel trainieren. Ich bin mir sicher, dass ich nach etwa fünf Grand-Prix-Rennen besser und besser werde, so Vialle. Dennoch könnte man seine Statur auch als einen Vorteil sehen, da es den MX2-Bikes etwas an Leistung mangelt und Gewicht und Statur des Fahrers wichtige Bestandteile des Gesamtpakets sind. Vialle hat seine starken Seiten, wirft aber auch noch andere (weniger deutliche) Eigenschaften ins Feld.

Tom Vialle (FRA) KTM 250 SX-F Pietramurata (ITA) 2019 © Ray Archer

Aus verständlichen Gründen wurde Vialle am Anfang der Saison 2019 besonders kritisch beäugt – noch bevor beim ersten Lauf in Argentinien die Motoren zum ersten Mal gestartet wurden. Manche Fahrer warten eine ganze Karriere auf eine Chance bei einer Mannschaft wie KTM: Einem Team, das die MX2-Weltmeisterschaft in den letzten 15 Jahren 11 Mal mit 8 verschiedenen Fahrern gewinnen konnte. „Wir haben mit anderen Jungs gearbeitet, die den Druck des orangefarbenen Zelts zu spüren bekamen, sagt Grübel dazu, im offiziellen KTM-Werksteam zu fahren. Überraschenderweise waren der Druck und die Erwartungshaltung für Vialle kein Hindernis. Und wenn, dann ließ er sich das nicht anmerken. Tatsächlich errang er bereits beim britischen Grand Prix, dem ersten Lauf in Europa, seinen ersten Podestplatz und das trotz der größeren Anzahl von Zuschauern sowie Branchen-Größen und des grelleren Scheinwerferlichts (verglichen mit der relativen Einsamkeit Patagoniens).

Wenn Fans sehen, was Jorge auf einem Bike anstellen kann, bleibt ihnen vor Staunen oft der Mund offen stehen. Tom und seine Art, mit dem Werkszirkusumzugehen, hat genau denselben Effekt auf mich, gibt Smets beeindruckt zu Protokoll. „Er ist so entspannt und ich habe geglaubt, dass er hinter der Fassade nervös seinem Debüt entgegenzittert … es war verrückt: Ich glaube, dass ich selbst in Argentinien aufgeregter und nervöser war als er! Es ist wirklich beeindruckend und eine wichtige Gabe.

Tom Vialle (FRA) KTM 250 SX-F Neuquen (ARG) 2019 © Ray Archer

Vialles Haltung erklärt sich zu einem gewissen Teil auch aus der Winterpause, die er mit viel Vorbereitungsarbeit verbracht hat. Er hat ungemein viel gelernt und entdeckt, was auch seine Einstellung zum Rennfahren geprägt hat. Insofern haben Smets, Grübel und seine Mannschaft fantastische Arbeit geleistet. „Er ist schön cool geblieben, findet der Deutsche. „Er hat im Winter ein paar Tests absolviert und ich wollte ihn mit den Möglichkeiten beim Bike nicht übermäßig belasten. Wir sind Schritt für Schritt vorgegangen und heute besitzt er ein gutes Paket. Sobald er für etwas mehr bereit ist und er weitere Fortschritte gemacht hat, werden wir weitere Schritte machen. Zuerst muss er aber wachsen und sich im Team wohlfühlen.

Wir wissen, dass er mit dem Material, das er von uns bekommt, schnell sein kann, und manchmal verliert sich ein Fahrer, wenn man ihm zu früh die Möglichkeit gibt, seinen eigenen Weg zu gehen. Zuerst muss er lernen, das Bike bestmöglich zu nutzen. Erst dann können wir weitere Schritte setzen. Er verlangt viel und weiß, was er will.

Tom Vialle (FRA) KTM 250 SX-F Matterley Basin (GBR) 2019 © Ray Archer

Man sollte die Rolle und die Erfahrung des Teams nicht unterschätzen, wenn es um Vialles reibungslosen Aufstieg in die Welt des Grand-Prix-Sports geht. Nachdem sie sich mit Herlings, Tixier, Jonass und Prado in der ersten Hälfte des Jahrzehnts ausschließlich um Fahrer mit Weltmeisterschafts-Ambitionen gekümmert hatten, war der Rookie mal ein ganz anderes Projekt für Grübel und Co. „Man hat nicht jedes Jahr das Glück, zwei Titel-Anwärter im Team zu haben, sagt Gruebel lächelnd. „Wir müssen uns auch um den Nachwuchs kümmern und ich glaube, dass Tom seinem Ruf gerecht werden wird. Es ist zwar schön, zu gewinnen. Manchmal aber ist der Weg zum Triumph ebenso schön. Es ist unsere Aufgabe, Fahrer anzuleiten und zu unterstützen, und es ist fantastisch, einem bei seiner Entwicklung zuzusehen.

Nun fährt Vialle auf einem Werksbike und während er sich zuallererst an seine neue Umgebung gewöhnen muss und seine Entwicklung eher sekundären Charakter hat, ist er doch gezwungen, mit einem völlig anderen Arbeitsgerät umzugehen. „Es war nicht einfach, mich an die Federung und den Motor zu gewöhnen, so Vialle. „Ich hatte viel zu lernen.

Ich beurteile einen Fahrer anhand seines Drangs, auf dem Bike zu sitzen, und danach, wie gut er Veränderungen daran fühlen und Feedback abliefern kann, fügt Grübel hinzu. „Wenn ein Fahrer schnell gutes Feedback geben kann, ist es einfacher, ihn schneller zu machen, weil du die richtige Richtung kennst. Mit Tom ist das recht einfach.

Red Bull KTM Factory Racing Team Matterley Basin (GBR) 2019 © Ray Archer

Aus Vialles Perspektive ist die Unterstützung seines Vaters und seiner Familie – der Menschen, die der Schlüssel zu seiner Rennkarriere waren, bevor sich die Türen zu KTM öffneten – ein weiterer wichtiger Faktor. Red Bull KTM hat schon viele verschiedene Familiensituationen kennengelernt – dominante Eltern genauso wie das Gegenteil davon. Bei den Vialles ist die Chemie vielversprechend. „Tom hat eine gute Bildung genossen und ist ein netter Typ. Trotzdem ist er sehr vernünftig und bescheiden, so Smets. „Seiner Familie war vom Moment der Vertragsunterzeichnung an bewusst, dass dies nur der Anfang war und dass sie noch nicht an der Spitze waren. Sie stehen mit beiden Beinen fest am Boden.

Für uns als Familie ist die Erfahrung eine ganz andere, sagt Frederic Vialle. „Letztes Jahr fuhren wir mit einem serienmäßigen Motorrad und waren ein Privat-Team, nur ich und Tom. Ein Werksteam ist natürlich etwas ganz anderes: zwei Mechaniker, Dirk, Joel und Training im Winter, der Umzug nach Lommel … heute habe ich nur mehr ein Auge auf Tom, weil die Organisation um ihn herum so gut ist.

Viele Fahrer stehen unter Druck. Wir sehen das Ganze aber so, dass wir ein ausgezeichnetes Team und ein sehr gutes Motorrad haben die KTM ist extrem schnell und mit diesen Faktoren sollte ein guter Fahrer gute Resultate erzielen, untertreibt er.

Die Familiensituation ist eine große Hilfe, betont Smets. „Selbst in meiner aktiven Zeit sah ich, wie Situationen mit den Eltern oft negative Auswirkungen hatten, und seit ich im Ruhestand bin und die Kids intensiver beobachten kann, sehe ich das noch öfter. Natürlich ist es nicht einfach, die Eltern eines Athleten auf dem Niveau Vialles zu sein. Seine Familie ist aber sehr stabil und weiß, dass er es nur mit harter Arbeit ganz nach obenschaffen kann. Ein glitzerndes Bike, eine tolle Ausrüstung oder ein Red Bull-Helm allein reichen nicht zum Sieg: Nur harte Arbeit entscheidet darüber, ob du es schaffst oder nicht.

Vialle family Pietramurata (ITA) 2019 © Ray Archer

Was kommt als Nächstes? Vialle hat mit seinen Resultaten bereits für Aufsehen gesorgt. „Das kam sehr überraschend für mich und er macht ganz klar riesige Fortschritte. Es ist nicht leicht, aus der Europameisterschaft zu kommen und gleich in den ersten beiden Rennen so gut abzuschneiden, so Tony Cairoli zu Vialles erstem Podestplatz beim zweiten Lauf. „Ich freue mich riesig für ihn und hoffe, dass er diesen Trend fortsetzen und noch viele weitere Podestplätze einfahren kann: Ich glaube, er hat das Zeug dazu. Er ist technisch stark und konzentriert und ich kann keine großen Fehler entdecken.

Zurzeit hält das Team noch seine schützende Hand über ihn. „Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu viel von ihm zu erwarten, warnt Smets. „Wir müssen uns realistische Ziele setzen.“ Außerdem ist man sich seiner Schwächen bewusst (auch an seinen Englischkenntnissen muss er noch arbeiten). „Er könnte dieselben Probleme haben, die Jorge im Jahr 2017 hatte, schätzt Grübel. „Er fährt gut und hat Talent, hat aber eventuell nicht die Stärke, bis zum Ende des Rennens voll anzugreifen. Wenn er einen guten Start hinlegt, kann er eine Weile vorne bleiben und seinen Platz verteidigen, solange er kann. In seinem ersten Jahr gewann Jorge vier GPs, fiel aber auch bei vier GPs aus. Er war nicht stark genug, hat sich aber weiterentwickelt, und je mehr Rennen er fährt, desto besser wird er werden.

Er hat einen guten Stil und ist ein guter Starter. Nun muss er nur mehr seinen Speed verbessern, urteilt Vialle Senior. „Der Unterschied zwischen der EMX und dem GP-Sport zeigt sich in der Stärke und der körperlichen Kondition der Fahrer. Das Bike ist sehr schnell und er braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen. In den nächsten paar Monaten wird er enorm viel Erfahrung sammeln. Ich glaube, dass er eine Runde lang den richtigen Speed fahren kann und dass er technisch stark ist. Da aber alles noch so neu für ihn ist, muss er so viele Rennen fahren, wie es möglich ist … und versuchen, nicht zu stürzen.

Tom Vialle (FRA) KTM 250 SX-F Matterley Basin (GBR) 2019 © Ray Archer

In den ersten Phasen der MXGP 2019 zeigt Red Bull KTM wieder einmal seine Dominanz. Prado ist ungeschlagen, Cairoli ist im Besitz des Red Plates und erstaunlicherweise zeigt sich Vialle ihnen ebenbürtig. Wenn man sich die Erfolge seiner ehemaligen Fahrer vor Augen führt, ist es für das Rennteam und die Leitung eine etwas überraschende, wenn auch nicht ungewöhnliche Situation. Irgendwie zaubern sie immer wieder Fantastisches aus ihrem Hut.

Fotos: Ray Archer | P. Haudiquert