DER “NEUE”

Über zehn Jahre sind verstrichen, seit bei KTM zuletzt ein amtierender Weltmeister die Disziplin wechselte und in einer anderen Serie wieder als „Rookie“ begann. Wir haben Tom Vialle über seinen beruflichen und persönlichen Wechsel vom Grand Prix-Motocross in die Stadien des amerikanischen Supercross ausgefragt.

Tom Vialle bei seinem Supercross-Debüt in Houston Anfang Februar 2023
PC @SimonCudby

Am 4. September 2022 ließ Tom Vialle seinen Titelrivalen Jago Geerts in Afyon hinter sich und gewann mit dem Grand Prix der Türkei auch seine zweite FIM MX2-Motocross-Weltmeisterschaft in nur vier Saisons.

Mit diesem Triumph endete ein Titelkampf, der sich über die ganze Saison hinzog und erst in den letzten Minuten des letzten Rennens entschieden wurde. Ein starker Abschied für den damals 21-Jährigen, der als vierter Fahrer von Red Bull KTM Factory Racing seit 2009 mehr als eine „Goldmedaille“ in der Kategorie erringen konnte.

In der Türkei verließ Vialle die Rennstrecke als Erstplatzierter, feierte kurz und flog dann mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten. Nun im nordamerikanischen Ableger von Red Bull KTM begann er mit der Vorbereitung auf den harten Wechsel zur AMA-Supercross-Meisterschaft – den zweitpopulärsten Motorrad-Sportwettbewerb der Welt.

Als der Franzose in der Türkei seinen 10. von insgesamt 18 Grand Prix gewann, hatte er sich bereits entschieden, 2023 nach Amerika zu wechseln. Mit dem Ergebnis wurde jedoch klar, wie sehr er in der Weltmeisterschaft fehlen würde und wie viel Potenzial er mit seiner KTM 250 SX-F für den präzisen, körperlich anstrengenden Supercross hatte. Das letzte Mal, dass bei KTM ein amtierender Weltmeister nach Amerika wechselte, war Ken Roczen Ende 2011, der sich ebenfalls nach seinem MX2-Sieg auf den Weg über den Atlantik machte.

Das Red Bull KTM Factory Racing Team feiert Tom Vialles zweiten FIM MX2 Motocross Weltmeistertitel in der Türkei im September 2022
PC @RayArcher

Neben seinen bemerkenswerten Fähigkeiten sprachen bei Vialle auch weitere Aspekte dafür, sich an Supercross zu wagen. Sein schneller Aufstieg im Grand Prix demonstrierte, wie extrem schnell er lernen kann. Bei seinem Rookie-Debüt beim MX2 im Jahre 2019 schaffte er sieben Podestplatzierungen, gewann den schwedischen Grand Prix und erntete schließlich den 4. Platz. Ein Jahr später war er auf Platz 1 der Rangliste. In Kombination mit einer pragmatischen Sicht auf seine Karriere (er war weder übermäßig dramatisch bei schlechten Ergebnissen in der MX2, noch unnötig euphorisch bei Triumphen), einer starken Arbeitsethik und einem hervorragenden Startpotenzial war Vialle hervorragend positioniert, sich als nächster Fahrer für Red Bull KTM in die USA zu wagen.

In der fünften Runde des SX 2023 zeigte Vialle im gewaltigen NRG Stadium mit 72.000 Plätzen in Houston, was er kann. Nr. 128 führte Runden an und kämpfte um die Podestplatzierung, bis er durch zwei Fehler spät im Main Event auf den 7. Platz zurückfiel. Genau wie im Jahre 2019 zog Vialle ab dem ersten Moment die Aufmerksamkeit auf sich. Die Reise hatte begonnen.

Um von Tom mehr darüber zu hören, wie man sich mit einem komplett neuen Sport vertraut macht, aus Westfrankreich an die Ostküste der USA umzieht und als Nummer eins in der Welt wieder zum Rookie wird, sprachen wir mit ihm in Texas. „Die letzten drei Jahre war ich immer ein Anwärter auf den Weltmeistertitel, das ist jetzt eine neue Situation“, lacht er. „Niemand erwartet von mir, dass ich jetzt direkt eine Meisterschaft gewinne: Das ist eine andere Art von Druck, sehr merkwürdig für mich. Normalerweise gehe ich ins Rennen und will siegen oder gute Ergebnisse für die Meisterschaft erringen, das war das übliche Ziel. Das ist jetzt etwas anders, und ich will zwar gute Ergebnisse, aber ich habe noch viel zu lernen, alles ist neu. Das Bike zu fahren, ist nicht das größte Problem, es sind die vielen kleineren Sachen, wie der Zeitplan oder die Tatsache, dass man nur zwanzig Gegner hat. Es gibt viel zu lernen.“

Nach der erfolgreichen Saison 2022 sagte Tom Vialle “au revoir!” zum MXGP und übersiedelte zum Red Bull KTM Factory Racing Team in die USA.
PC @RayArcher

Blicken wir kurz zurück: Die Weltmeisterschaft hast du in den letzten Minuten des letzten Rennens der letzten Runde gewonnen und bist dann direkt in die USA gezogen. Das ging alles sehr schnell. Hast du die Emotionen dessen, was du und das Grand-Prix-Team 2022 erreicht haben, verarbeitet?

Das stimmt, dass alles sehr schnell ging. Ich gewann die Meisterschaft, und nicht mal drei Wochen später lebte ich bereits in den USA. Den Sieg konnte ich nicht wirklich genießen – den Titel habe ich natürlich gefeiert – aber ich hatte keine Zeit, mich zu entspannen und mir alles durch den Kopf gehen zu lassen, weil im letzten Winter einfach so viel los war. Die Türkei war Wahnsinn, wenn ich mich daran erinnere, da war vor dem GP mehr Druck als tatsächlich während dem Rennen. Das war ein gutes Wochenende. Eine schöne Erfahrung.

Als du 2019 in die Kategorie MX2 kamst, hast du schnell gelernt. Glaubst du, dass du auch im Supercross so schnelle Fortschritte machen wirst?

Ich denke schon, aber im Vergleich zu einer vollen Grand-Prix-Saison haben wir hier weniger Rennen, nur 8 bis 9. Aber ich möchte natürlich aufbauen, so viel ich kann. Als ich in die Weltmeisterschaft kam, war ich nie regelmäßig GPs gefahren, es ging aber trotzdem gut. Denselben Effekt hätte ich hier auch gerne. Das ist das Ziel.

Nummer 128 hat in seinem ersten 250SX Rennen in Houston bereits Runden angeführt
PC @SimonCudby

Du bist mit deiner ganzen Familie in die USA gezogen. Wie wichtig war dir das?

Sehr wichtig. Wir haben so immer zusammengearbeitet und sind zusammen umgezogen; meine Eltern und mein Bruder unterstützen mich beim Fahren und bei den Rennen. Meine Fahrweise hier in den USA zu verändern, war schon ein großer Schritt, und dazu noch die ganze Umstellung im Leben, so viel Neues, das alleine zu machen – oder nur mit meiner Freundin – das wäre hart geworden. Ohne meine Familie wäre ich niemals so gut und so schnell wie jetzt. Das war viel Papierkram, viel Umstellung! Hatte ich Heimweh? Nicht wirklich…aber ich habe das Essen vermisst. In Frankreich gibt es schon richtig gute Sachen!

Im MXGP unterscheiden sich die Trainingsstrecken meist stark von den Grand-Prix-Strecken, aber im Supercross sind sich die Teststrecken und die Rennstrecken recht ähnlich, die Hindernisse sind gleich angeordnet. Das muss dir bei deiner Entwicklung geholfen haben…

Ja, guter Punkt. Ich würde sagen, die Teststrecken sind vielleicht sogar schwieriger als die Rennstrecken im Stadion. Aldon Bakers Strecke ist sehr groß, die Whoop-Abschnitte sind riesig! Beim Rennen erleben wir dann keine böse Überraschung und können uns schnell an die Strecke anpassen. Das ist gut.

Hast du in den letzten Monaten mal gedacht: „Wow, Supercross ist härter, als ich dachte…“?

Ja. Nach dem ersten Monat dachte ich mir: „Das wird schwer werden.“ Wenn ich heute wieder vor der Entscheidung stünde, vom Motocross zum Supercross zu wechseln, ich wüsste nicht, ob ich es tun würde. Das lag am Fahren: Menschen, von denen ich nie gehört hatte, waren enorm schnell, sie nahmen die Kurven schnell, das Bike ist sehr anders, und alles war viel radikaler, als ich es gewohnt war. Es brauchte einige Monate und viel Arbeit, und erst in den letzten Wochen vor Houston habe ich dann einige große Schritte gemacht und konnte mich stark verbessern. Wie werden sehen, wie die Rennen laufen, aber der Lernprozess war hart… irgendwann hat es dann geklickt.

Tom weiß, dass es hart wird, im Supercross erfolgreich zu werden, aber er stellt sich der Herausforderung
PC @ALIGN MEDIA

Du hattest mit Joel Smets ein sehr gutes Training- und Vorbereitungssystem und arbeitest nun mit Aldon Baker zusammen. Was ist nun anders?

Das Training mit Joel, die letzten drei, vier Jahre, war extrem hart. Ich weiß, wie man alles gibt, und ich denke, mehr als bei meiner Vorbereitung für die GPs kann ich einfach nicht trainieren. Das war echt viel. Die Arbeit mit Aldon war also nicht härter. Was härter war, war das viele Supercross-Fahren; das hat meinen Körper sehr belastet, und ich habe da eine viel höhere Atemfrequenz. Die Hitze und Luftfeuchtigkeit in Florida war da auch ein großer Faktor. Das Atmen fällt schwerer, und es ist körperlich viel anstrengender als alles, was ich in Europa gemacht habe.

Hattest du beim Supercross in bestimmten Bereichen Probleme?

Die Rhythm-Abschnitte waren schwierig; da geht es nicht nur um Sprünge, man muss schnell und sicher durch kommen. Wenn man diese Abschnitte nicht mit Tempo schafft, kann man pro Runde eine halbe Sekunde verlieren. Es passiert viel gleichzeitig, und manchmal muss man sich auf eine vielleicht nur 30 cm große Stelle konzentrieren, die man aber perfekt treffen muss. Die Whoop-Abschnitte sind auch nicht ohne… aber die Kurven sind wichtiger, als man vielleicht denkt: In den Kurven kann man mehr Zeit verlieren als in den Whoops.

Nach unserem Gespräch in Houston war keine Zeit für Interviews mehr. Das Trikot von Red Bull KTM kann angesichts der Erwartungen schwer werden, aber Tom fühlte sich vom ersten Tag an immer sichtlich wohl darin. An Selbstsicherheit, Intelligenz und Mut hat es dem französischen Star nie gemangelt. Supercross ist nur die nächste Grenze, die er sprengen möchte.

Tom Vialle auf seiner KTM 250 SX-F in Supercross Runde 5 in Houston, Texas (Februar 2023)
PC @ALIGN MEDIA