Die MotoGP™ Weltmeisterschaft 2022: Der Weg zum Zweitbesten der Welt

War die MotoGP™Weltmeisterschaft 2022 ein Erfolg oder ein ständiger Kampf? Oder beides? Nach der sechsten Saison auf der Rennstrecke baten wir den langjährigen Technical Manager von Red Bull KTM Factory Racing, Sebastian Risse, den Weg des fortschrittlichsten Motorrads des Unternehmens zusammenzufassen.

Ein perfekter Start in die neue Saison – in Katar auf dem Podium zu stehen, war etwas ganz Besonderes
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2022 schnitt Red Bull KTM Factory Racing als das zweitbeste Team bei der MotoGP™ ab. Brad Binder und Miguel Oliveira errangen mit ihren KTM RC16 insgesamt zwei Siege und fünf Podestplatzierungen. Binder war der Fahrer, der über die 20 Runden der Saison die meisten Plätze gut machen konnte. Der Südafrikaner begann und beendete das Jahr mit jeweils einem 2. Platz – im März beim ersten Rennen in Katar und im November beim Abschluss in Valencia.

Dieser frühe Triumph auf dem Lusail International Circuit war eine besondere Genugtuung – hier hatte die Factory oft genug Schwierigkeiten gehabt. In Katar feierte KTM 2017 sein Debüt als fester Teil der MotoGP™-Startaufstellung. In dieser Saison lag die KTM RC16 2,5 Sekunden hinter dem Erstplatzierten. Ende 2018 hatte es die V4-Maschine mit Stahlrahmen auf das Podest geschafft, 2020 kam der erste Sieg; seitdem gibt es für KTM jedes Jahr den Sieger-Prosecco.

Brad Binder am Weg auf das Podest auf der Rennstrecke Lusail International in Malaysia
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2022, das letzte Jahr in konventionellem Grand-Prix-Format, bevor die MotoGP™ 2023 samstägliche Sprint-Rennen einführt, war für KTM eine Geschichte stetiger Arbeit und stetigen Wandels. Binder hatte beispielsweise in der Saison nur einen Start aus der ersten Reihe, da sein Team sich mit neuen Entwicklungen in der Aerodynamik (mit nur zwei „Formen“, die in der Saison homologiert werden durften), einer begrenzten Zuteilung der Michelin-Reifen und der perfekten Rundengeschwindigkeit für das Qualifying zurechtfinden musste. An den Sonntagen waren das Tempo und die Wettbewerbsfähigkeit erheblich besser, aber für die Crew blieb es eine schwierige Arbeits- und Lernerfahrung.

Kontinuierliche Arbeit führt zu neuen Aerodynamik-Entwicklungen
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Sebastian Risse konnte uns einiges zu den Hintergründen erzählen und einige Hinweise darauf geben, was wir 2023 erwarten können.

Von den ersten Tests bis nach Valencia: Wie verlief die Saison 2022 mit der KTM RC16?

2021 zogen wir das Fazit, dass unsere größte Schwachstelle die Beschleunigung aus den Kurven heraus war. Die Aerodynamik hatte hier eine große Auswirkung, auch darauf, wie sich das Bike aus der Kurve beschleunigen lässt. Darauf lag unser Schwerpunkt in der Vorsaison 2022. Wir waren mit der Aerodynamik zuvor recht konservativ gewesen, 2022 wollten wir da radikaler vorgehen. Wir änderten unseren Ansatz: Statt einer Aerodynamik-Lösung für das Bike zu finden, überlegten wir uns ein Aerodynamik-Konzept und passten den Rest der Einstellung an das Konzept an. Wir überdachten auch einige Entscheidungen bei der Hardware. Wir wollten ein besser abgerundetes Paket mit radikaler Aerodynamik haben. Das eröffnete uns einige neue Möglichkeiten. In Mandalika in Indonesien [Runde 2] sahen wir, dass wir das Beschleunigungsproblem gelöst hatten, zum Anfang der Saison waren wir also recht optimistisch. Wir fuhren einige tolle Ergebnisse ein, aber auf anderen Strecken hatten wir Probleme, das ganze Paket gut einzusetzen. Das stand in Zusammenhang mit der Streckenführung, der Bereifung und natürlich dem Bike. Wir mussten herausfinden, wie wir alles besser „abrunden“ konnten, angesichts der Vorderreifen-Zuteilung. Das hat etwas gedauert. In den letzten Überseerunden und den ersten Runden in Europa hatten wir Probleme, vorne etwas mehr Marge zu finden. Dann kam eine Phase, in der jeder Lösungsansatz für eine Situation immer ein Kompromiss war. Wir wollten besseres Kurvenverhalten oder mehr Verzögerung, und dann wurde auf einigen Strecken die Beschleunigung wieder zum Problem… aber aus anderen Gründen als im Vorjahr! Wir lernten mehr und mehr darüber, bessere Kompromisse zu finden. In Aragon testeten wir einige neue Bauteile, die uns weiterhalfen. Insgesamt hatten wir eine Kombination von Faktoren, die uns beeinträchtigten, aber am Ende waren wir doch recht wettbewerbsfähig unterwegs… nur nicht auf allen Strecken, die wir wollten. Zusammenfassend denke ich, dass wir bei der Beschleunigung deutliche Fortschritte gemacht haben, aber angesichts der Zeit, die wir hatten, war das ein recht grober Ansatz. Wir hielten nach etwas besserem Ausschau, aber die Homologation in der Saison schreibt vor, dass man beispielsweise die Aero nicht verändern darf, wir mussten also viel im Hintergrund arbeiten. Ich glaube, 2023 wird unser Bike viel besser abgerundet sein.

“Wir haben in der 2. Runden in Mandalika (Indoniesien) gesehen, dass wir unser Beschleunigungsproblem in den Griff bekommen haben und sind somit positiv in die neue Saison gestartet”, sagt Sebastian Risse
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Du bist seit Tag 1 beim KTM MotoGP™-Projekt mit dabei. 2022 zog KTM einige neue Mitarbeiter und Spezialisten heran. Wie hat sich das auf die Arbeit ausgewirkt?

Es ist immer schwierig unter neuen Umständen, wenn sich die Situation verändert, das Maximum herauszuholen. Ich denke, wir haben einen guten Job gemacht, da das Team hervorragend zusammenarbeitet und wir auch eng mit den Mitarbeitern im Werk kooperieren. Eines der Hauptziele war eine objektivere Sicht auf unsere Ergebnisse, mehr Forschung als Entwicklung, besseres Verständnis und mehr Analysen der Vorgänge zu bekommen… und dafür nicht nur mehr Ressourcen, sondern auch den richtigen Einsatz dieser Ressourcen zu wählen! Während der Saison bauten wir Strukturen auf, und es kommt eine Phase, in der dieser sehr wissenschaftliche Ansatz nicht so viel direkten Erfolg bringt wie Versuch und Irrtum.

Neue Mitarbeiter und Spezialisten verstärken das Red Bull KTM Factory Racing Team im Jahr 2022. “Das gesamte Team arbeitet sehr gut zusammen”, fügt Risse hinzu.
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War dieser Ansatz auch langsamer?

Das glaube ich nicht, aber die Prozesse müssen entwickelt werden, das braucht eine bestimmte Vorlaufzeit. Stell dir vor, du schießt einfach in die Luft: Man hat direkt Ergebnisse, und wenn es dann noch klappt, ist alles super. Wenn man aber etwas untersucht und genau die richtige Stelle einkreist, dann muss man sich für den Schuss Zeit nehmen… dann macht man aber auch einen großen Schritt. Sobald der Prozess läuft, gehen die Projekte in verschiedene Phasen und es kommt bei der Arbeit und auf der Strecke immer wieder etwas Neues auf. Es gab Zeiten, da mussten wir die Verbesserungen aus der Entwicklung mit der Optimierung der aktuellen Rennmaschine in Einklang bringen. Ich glaube, das hat dazu geführt, unser Bike besser zu verstehen. Insgesamt haben wir nun eine viel bessere Grundlage, um das Bike für nächstes Jahr perfekt ins Ziel zu bringen.

Welcher Bereich der KTM RC16 2022 war ein Erfolg?

Ich glaube, im Vergleich zu 2021 haben wir wirklich einiges mit dem Motor gemacht. Mit der Elektronik haben wir ein weites Feld eröffnet. Da ist man nie fertig, man lernt immer mehr dazu. Unser Aero sah recht radikal aus, aber wir haben das Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Aero ist ein Teil des Bikes, das mit vielen Kompromissen einhergeht, da braucht man Erfahrung mit radikalen Lösungen, damit alles zusammenpasst und vielseitiger wird.

Einer unserer ersten größeren Jobs nach Valencia ist ein Besuch im Windtunnel. Was bietet diese Ressource dir und wie unterstützt sie die Entwicklung der Aerodynamik 2023?

Es ist im Endeffekt Teil eines kontinuierlichen Prozesses. Die Aero-Entwicklung läuft ganzjährig, weil es viele Bauteile und Formen, Wissen, Entwicklung und Verständnis braucht, um etwas zu verbessern. Der Windtunnel ist da nur ein Teil des Puzzles. Wir führen viele Simulationen durch und investieren viele Ressourcen in die Analyse der Streckendaten. In verschiedenen Phasen braucht man dann die Validierung im Windtunnel. Das ist also wichtig, und hier kann sich auch der Fahrer direkt beteiligen und das Bike aus einer anderen Perspektive betrachten. Normalerweise hat der Fahrer ja nur einen bestimmten Blickwinkel und ist in der Position auch recht beschäftigt! Bei diesen Sessions im Windtunnel haben wir interessante Kommentare und Ansichten gehört. Im Allgemeinen ist der Windtunnel ein Werkzeug, mit dem man die anderen Werkzeuge abgleicht.

Der Windkanal – hier vereinen sich die Erkenntnisse aus Entwicklungsprozessen, das Wissen und das Verständnis rund um die RC16
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Was war für dich der beste Moment der Saison? Der Zeitpunkt, als die Kommentare, die Emotionen und die Daten zusammentrafen und die KTM RC16 ihr ganzes Potenzial zeigen konnte?

Das skaliert einfach mit den Ergebnissen! Damit meine ich nicht nur die Platzierung am Sonntag. Klar, wir hatten viele Rennen, bei denen wir Schwierigkeiten hatten, im Qualifying eine schnelle Runde hinzulegen. Aber wenn uns am Samstagabend Optionen wegfielen und wir am Sonntag dann trotzdem loslegten, hatten wir einige sehr gute Rennen, bei denen wir nicht mal aufs Podest kamen. Ein wichtiger Punkt der Saison war Katar und Runde 1. Die Strecke war vorher jedes Jahr ein Albtraum gewesen. Da aufs Podest zu kommen, war etwas Besonderes. Wir machen uns aber auch etwas Sorgen – wenn man seine Schwachstellen für eine Strecke, mit der man gar nicht zurechtkam, so radikal behebt, was passiert dann auf den Strecken, mit denen man vorher gut zurechtkam? Das stellten wir 2022 an einigen Stellen fest. Es war nicht immer einfach, sich auf ein Rennwochenende einzustellen. In Indonesien war Miguel so stark und wollte beweisen, was er konnte, nachdem er Brad in Katar auf dem Podest gesehen hatte. Er hatte ein fantastisches Wochenende. OK, es war nass, aber ich bin mir sicher, auch auf trockener Strecke hätte er hervorragend abgeschnitten. Zu dem Zeitpunkt hatten wir echt ein beeindruckendes Momentum.

Miguel Oliveira zeigt seine Stärken und feiert in Indonesien seinen 1. Sieg in der Saison 2022
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Als Techniker muss es dich irritieren, wenn die „guten“ und „schlechten“ Strecken für KTM plötzlich vertauscht sind…

Absolut, ja! Es gibt keinen Zugewinn umsonst. Auch die kleinste Verbesserung ist schon ein Erfolg.

Zu guter Letzt: Wie sieht das mit den Sprint-Rennen ab 2023 aus? Wie wird sich das in der Boxengasse anders oder schwieriger gestalten?

Als Team, als Ingenieur, wird das eine sehr fordernde Situation ergeben. Als Fahrer noch mehr. Wir gehen von einer Session, wo es um die eine ultimative Rundenzeit geht, zu Parametern wie Reifenmanagement über. Das Reifenmanagement wird etwas weniger wichtig werden, und aus den Sprints können wir Daten gewinnen, um uns auf die „normalen“ Rennen am Sonntag vorzubereiten. Das wird auf jeden Fall interessant werden. Wir werden Freitagabend so bereit sein müssen, wie wir das vom Samstagabend gewohnt sind. Das wird intensiver und viel mehr Arbeit erfordern, aber wir sehen das als Chance, besser zu sein als die Konkurrenz. Das ist das Ziel.

Ein Team, ein Ziel – Red Bull KTM Factory Racing bereitet sich auf die kommende Saison 2023 vor
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