Einer der Grössten: Tony Cairoli

Es gibt nicht viele Motorradrennfahrer, sie sich auf dem höchsten Level des Sports messen und neun FIM-Weltmeisterschaften ihr Eigen nennen können. Um genau zu sein, sind es nur zwei. Red Bull KTM-Werksfahrer Tony Cairoli ist einer von ihnen. Was ist es, dass den 31-Jährigen nach noch mehr Titeln streben lässt? Wird er die magischen 10 erreichen? Und wie wird sich 2018 die Situation mit seinem mehr als konkurrenzfähigen Teamkollegen gestalten?

Tony Cairoli (ITA) 2017

Es wird wohl kaum einen Motocross-Fan geben, der bestreitet, dass Tony Cairoli einer der besten und bedeutendsten Motocrosser ist. Dennoch gab es vielleicht einige, die sich fragten, ob sie den Sizilianer noch einmal in der Form erleben würden, in der er zwischen 2009 und 2014 sechs aufeinanderfolgende Titel in der höchsten Klasse des Motocross-Sports gewann. Nach zwei verletzungsbedingt schwierigen Jahren (obwohl er die MXGP-Saison trotz eines geschädigten Nervs in Rücken und Schulter immer noch als Vizeweltmeister beendete), auch bedingt durch den Aufstieg starker Fahrer wie Romain Febvre, Tim Gajser und Red Bull KTM-Teamkollege Jeffrey Herlings – fast zehn Jahre jünger als die ehrwürdige #222 – war Cairolis Motivation und Energie zu Beginn der Saison 2017 förmlich spürbar.

Cairoli strafte die Pessimisten Lügen und zwar mit atemberaubenden Leistungen. Die Aufholjagd im zweiten Lauf des fünften Saisonrennens in Arco di Trento vom beinah letzten auf den ersten Platz sowie seine Performance im Sand von Ottobiano beim elften Grand Prix des Jahres sind nur zwei Gelegenheiten, die beweisen, dass Tony 2017 besser, cleverer und schneller war als jemals zuvor.

Tony Cairoli (ITA) KTM 450 SX-F Neuquen (ARG) 2017

Wie bei vielen ‘Giganten’ des Sports war es töricht, Cairoli vorzeitig abzuschreiben. Seine Fähigkeiten auf jedem Untergrund, sein Gespür für die Geschehnisse im Rennen und seine schier unendliche Erfahrung als Vollzeit-GP-Fahrer seit 2004 hätte jedem klar machen müssen, dass sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft ist. Fit, energiegeladen und nach einer langen Testphase im Winter perfekt auf die KTM 450 SX-F abgestimmt, meldete sich Cairoli mit 12 Podestplätzen und sechs Grand-Prix-Siegen in der 19 Rennen umfassenden Saison 2017 zurück.

„Er ist motiviert, er hat Spaß und das ist das Wichtigste. Er will sich immer weiter verbessern, das ist sein Geheimnis“, antwortet Teammanager David De Carli auf die Frage, warum Cairoli immer noch danach strebt, an der Spitze des Sports zu stehen und dafür hart zu arbeiten und Risiken einzugehen. Viele Beobachter – und sogar viele Fahrer – äußerten sich dieses Jahr zu der besonders anspruchs- und stressvollen MXGP-Saison. Es würde besonders schwierig werden, die WM zu dominieren – Tony hat es geschafft.

Tony Cairoli (ITA) 2017

Seit mehr als zehn Jahren habe ich regelmäßig mit dem wohl besten Offroad-Racer der Neuzeit (und er befindet sich in sehr guter Gesellschaft) zu tun und ich kann De Carlis Aussage nur bestätigen. Cairoli – genauso wie ein anderer berühmter Italiener in der MotoGPTMmuss keine Rennen fahren oder nach noch höheren Karrierezielen streben, die unerreichbar scheinen (Cairoli ist bereits jetzt der zweiterfolgreichste Motocrosser aller Zeiten). Er sucht das Limit, weil er diesen Sport, das Fahren, den Wettkampf und alle Aspekte, die das Leben eines Topathleten mit sich bringt, liebt. Cairoli scheut auch vor den weniger positiven Aspekten seines Jobs und Lebensstils nicht zurück. Statt sich in seinem Motorhome einzuschließen und auf die entscheidenden Momente eines Grand-Prix-Wochenendes zu warten, in denen er den Startknopf seiner KTM 450 SX-F drückt, ist er regelmäßig im Fahrerlager oder beim Team anzutreffen. Er nimmt seine Rolle als Führungspersönlichkeit, Weltmeister und als einer der Besten seines Sports an und ist auch mit fast 32 Jahren noch weit davon entfernt, sich zurückzunehmen oder gar zurückzutreten.

„Es gibt nichts, dass du gegen das Älterwerden unternehmen kannst. Aber ich denke, dass man auch mit 29-30 Jahren immer noch in der Lage ist, auf gutem Niveau zu fahren, auch wenn mich die zwei Verletzungen in den letzten beiden Jahren ausgebremst haben und ich nicht so arbeiten konnte, wie ich wollte“, erzählt er mir in Assen beim Grand Prix der Niederlande, wo er den nächsten Meilenstein seiner Karriere erreichte. „Ich fuhr weniger. Trainierte weniger. Auf der einen Seite war das gut, denn es motivierte mich. Es ist, als ob 2017 mich für die letzten beiden verlorenen Jahre entschädigt hat.“

„Ich wusste nicht, ob ich mich von der Verletzung 2016 wieder vollständig erholen würde“, erzählt er uns zurückblickend auf das vergangene Jahr. „Ich kannte das ganze Ausmaß des Problems nicht. Ich wusste, ein Nerv war eingeklemmt und der Arzt sagte, ich müsste mich anpassen und vielleicht würde ich ein wenig Kraft zurückerlangen, aber es würde nie vollständig heilen. Ich dachte: „Ok … “ und hatte mich bereits darauf eingestellt, den Rest meines Lebens so fahren zu müssen. Ich ging weiter ins Fitnessstudio, ging weiter zur Physio und langsam wurde es immer besser. Im Winter fühlte ich mich gut, das Training verlief wieder normal und auf dem Bike fühlte ich mich entspannt, aber kraftvoller. Am Ende war es einfach ein gutes Gefühl und der Winter verlief wie gewünscht.“

„Weißt du, nachdem du einen Titel gewonnen hast, blickst du immer zurück“, fügt er hinzu. „Das ist eine Stärke, denn es bedeutet, dass du weißt, wie du dich am besten auf eine Situation einstellst und jedes Jahr hast du andere Rivalen und Herausforderer; ich würde sagen, das ist uns gut gelungen. Im Winter geht es vor allem darum, sich in den Bereichen, von denen wir glauben, dass uns in der vorherigen Saison etwas gefehlt hat, zu verbessern. Und auf diese Weise wächst du und verbesserst dich.“

Tony Cairoli (ITA) 2017

Cairoli hat bisher neun Titel gewonnen, sieben in der MXGP und zwei in der MX2. Er ist in Reichweite von Stefan Everts bis dahin ‘unantastbaren’ zehn Titeln und nur noch ein oder zwei Saisonen entfernt vom insgesamt 101. Grand-Prix-Sieg. Diese Woche wird er heiraten und in den nächsten Tagen in Valencia einen Test mit der KTM RC16 absolvieren. Er betont immer wieder, dass ihm Zahlen nichts bedeuten, aber 2018 hat er die Chance, seinen Namen an die Spitze zahlreicher Statistiken zu setzen. Falls es noch einer weiteren Motivation bedarf, wird er die in Form seines Teamkollegen Jeffrey Herlings finden, der fünf der letzten sechs MXGP-Rennen gewonnen und Cairoli damit sicherlich zum Nachdenken gebracht hat.

„Ja, darauf freue ich mich“, sagt er. „Wenn du um die Weltmeisterschaft fährst, ist es manchmal schwierig, mit dieser Intensität umzugehen und jede Woche zu trainieren. Zu Beginn und gegen Mitte der Saison gibst du alles im Training, um am Wochenende so viele Punkte wie möglich einzufahren und dann, wenn du einen Vorsprung herausgefahren hast, wird es zu riskant, zu viel auf dem Bike oder sogar mit dem Fahrrad zu trainieren. Zur gleichen Zeit, wo du dich also ein bisschen zurücknimmst, um zusätzliche Risiken zu vermeiden, gibt es einen Konkurrenten, der 110% gibt, um zu siegen und Punkte einzufahren.“

„Jeffrey fuhr um GP-Siege, das wusste ich, denn letztes Jahr fuhr ich schlecht, handelte aber jedes zweite Wochenende immer noch nach der Devise ´Alles oder Nichts´. Ich hatte keine gute Kondition und keinen guten Speed, aber dennoch gewann ich GPs, denn ich fuhr ohne nachzudenken. Jeffrey ist ein großes Talent. Sehr schnell. Ich denke nicht, dass seine Technik eine der Besten ist, aber er gibt auf dem Bike einfach alles. Er ist über das gesamte Rennen sehr stark und hat unglaublich viel Power. Er fährt mehr mit Kraft und Energie als mit Technik; ich mag Fahrer, die eher technisch und dadurch weniger wild fahren, aber jeder hat seinen eigenen Stil. Ich glaube wir unterscheiden uns auch in unserer Mentalität. Ich habe nie gesagt ‘Ich bin der Beste, versuch mich zu besiegen’. Stattdessen habe ich versucht, mein Können im Laufe meiner Karriere immer wieder unter Beweis zu stellen.“

Jeffrey Herlings (#84, NED) & Tony Cairoli (#222, ITA) KTM 450 SX-F Pangkal Pinang (INA) 2017

Es ist typisch für den (Renn-) Sport, dass die nächste Herausforderung unmittelbar an den vorherigen Erfolg anschließt. 2017 kehrte Cairoli an die Spitze zurück, wird sich für die Saison 2018 aber wohl nochmals verbessern müssen (das sollte genug Motivation sein). Ungeachtet dessen, was jetzt passiert, muss sich die Nummer 222 bewusst sein, welches Erbe sie erschafft. Was hätte ein 15-jähriger Cairoli – aufgewachsen in Sizilien und nur ein paar Monate, bevor er seine Heimat verließ, um seine Träume zu verwirklichen – dazu gesagt, dass er eines Tages als einer der Größten aller Zeiten bezeichnet werden würde?

„Ha, als Kind war ich nicht besonders gut; vor allem, weil ich niemanden hatte, mit dem ich mich hätte vergleichen können. Ich wurde nicht wie Roczen oder Herlings nahe der ‘Hauptstadt’ des Motocross geboren und hatte keine Chance, guten Fahrern zuzuschauen, denn allein durch das Beobachten anderer, lernst du eine Menge. Mit fast 16 Jahren lebte ich immer noch in Sizilien und die einzige Person, der ich zuschauen konnte und die besser war als ich, war mein Cousin, der lokale Rennen fuhr. Ich habe von ihm gelernt und schaute mir DVDs von amerikanischen Rennen an, aber ich sah keinen GP bis ich eine 125er fuhr. Es war schwierig, denn ich wusste nicht, ob ich genug Talent hatte bis ich mit 18 ins De Carli Team kam. Das war ziemlich spät. Wäre ich in den Niederlanden oder Belgien geboren worden, dann hätte ich früher bessere Fähigkeiten gehabt. Aber es ist ok. Ich genieße meine Karriere und bereue nichts. Was ich gesagt hätte, wenn mich jemand als einen der Besten aller Zeiten bezeichnet hätte? Sicherlich hätte ich gesagt ‘auf keinen Fall’. Ich gehörte zu den Top 5 der italienischen Meisterschaft, aber ich war nichts Besonderes. Ich hätte dir nicht geglaubt.“

An Tony Cairoli zu glauben, ist definitiv kein Problem mehr.

Tony Cairoli (ITA) 2017

Fotos: Ray Archer/KTM