Fenster zur Welt: Schutzbrillen

Auch etwas so Elementares wie eine Schutzbrille muss mit dem Fortschritt in der Motorrad-Technologie mithalten. Wir haben uns die neuesten Entwicklungen rund um diesen unentbehrlichen Teil der Ausrüstung einmal genauer angeschaut …

Es ist wichtig zu sehen, wohin man fährt. Jeder, der schon einmal offroad gefahren ist, kann ein Lied davon singen, wie dreckig und gefährlich es werden kann. Hinter einem Freund oder Konkurrenten zu fahren – egal ob Anfänger oder Grand-Prix-Star – bedeutet, dass eigentlich harmlose Wurzeln und Steine wie aus dem Nichts auf einen zugeflogen gekommen. Äste, Staub, Insekten; es gibt eine Vielzahl von lebenden und leblosen Objekten, die nur darauf warten, Fahrt und Sicht zu ruinieren.

Ryan Dungey (USA) KTM 450 SX-F VELTINS-Arena (GER) 2016

Ryan Dungey (USA) KTM 450 SX-F VELTINS-Arena (GER) 2016

Wenn man sich in der Saison 2016 eines der neuen Offroad-Bikes anschaut, entdeckt man einige technische Neuheiten und auch zur Ausrüstung der Fahrer haben sich clevere Köpfe Gedanken gemacht. Unternehmen wie 6D und Leatt beschäftigen sich bei der Entwicklung ihrer Helme intensiv mit Rotationsbewegungen und der Vermeidung von Hirnverletzungen. Fox hat leistungsstarke Funktionsbekleidung entwickelt (Flexair reagiert auf die Physis und individuellen Bedürfnisse des Fahrer, die Enduro-Produktereihe Legion ist dank einer Verstärkung mit Cordura extrem widerstandsfähig). Alpinestars bietet als Weltmarktführer eine sichere, praktische (und coole) Linie an Stiefeln. Und auch in Sachen Schutzbrillen haben die Hersteller viel zu bieten.

Sobald man eine neue Brille der Spezialisten wie Scott Sports, 100%, Oakley, EKS, Pro Grip oder Spy (ausgefallenere Angebote hat Dragon mit seinen riesigen Gläsern und Liquid Image mit eingebauter Kamera und WIFI im Programm) auspackt, ist der in diesem Bereich gemachte Fortschritt offensichtlich.

Am Auffälligsten ist wohl die Stärke der gefärbten und verspiegelten Gläser, die oftmals beschichtet sind, um ein Beschlagen zu verhindern. Im Fall von Scott Sports ist die Brille sogar so widerstandsfähig, dass sie einem mit einer Geschwindigkeit von 112 Metern pro Sekunde aus einer Co2-lasergesteuerten Pistole abgefeuerten 3mm großen Stahlball widersteht. Das ist mehr als die doppelte Norm, die normalerweise für Visiere von Straßenhelmen gilt. 100% verkündet mit Stolz, dass all ihre Gläser austauschbar und mit jedem anderen Modell in ihrem breiten Brillenangebot kompatibel sind. Und Oakley verbaut in seinem Premiummodell Airbrake Plutonit. Das Band ist verstärkt (und weist an der Innenseite meist einen klebrigen Silikonstreifen auf, um für festen Halt des Helms zu sorgen) und die Konstruktion des Rahmens hält alles andere außer Luft fern. Rahmenstärke, Gewicht, Flexibilität (EKS hat eine Brille im Programm, die sich verdrehen lässt und in ihre ursprüngliche Form zurückfindet), Form, Passform (eine universelle Form ist unerlässlich, um auf jeden Sturzhelm zu passen), Maße (ist kleiner besser? Oder doch fragiler?) und auch Überlegungen mit Hinblick auf Belüftung und individuelle Anpassungen (Scott Sports Tyrant-Modell bot eine Art Stecker-Set-up für einen verbesserten Luftstrom sowie das patentierte ‘FIT’-System, das durch das Drehen zweier kleiner Schrauben eine individuelle Anpassung der Brille an das Gesicht des Fahrers ermöglichte) spielen eine Rolle bei innovativen Design-Überlegungen.

Was gibt es sonst? Zweifellos ist der dichte, dreischichtige Schaumstoff mit einem aktiv arbeitenden Schwamm, der Feuchtigkeitstransport und Tragekomfort verbessert, ein großer Schritt vorwärts. Das austauschbare Paket an Abreißvisieren war im letzten Jahrzehnt eine wichtige Neuerung, wird aktuell aber umweltbedingt immer weniger genutzt. Und auch nicht ganz unwichtig: Was ist mit den Farbvarianten? Passen sie zum Rest der Ausrüstung oder sogar zum Motorrad?
Die Tage von Perspex-Gläsern und Lederriemen, als Motocross-Brillen aussagen wie ausrangierte Requisiten aus einem Historien-Kriegsfilm, sind ein Ding der Vergangenheit.

Beim 14. Saisonrennen der MXGP FIM Motocross-Weltmeisterschaft in Lommel diesen Sommer, präsentierte Scott Sports (die die Mehrheit ihrer Brillen nur ein paar Kilometer entfernt vom in Mattighofen gelegenen KTM-Headquarter produzieren) ihr neues Modell ‘Prospect’, das erst kurz zuvor im Handel eintraf. Die amerikanisch-schweizer Experten, und ehemaligen Marktführer, blicken auf fast ein halbes Jahrhundert Erfahrung im Bereich Brillendesign für den Offroad- und Wintersporteinsatz zurück (das Red Bull F1-Team nutzt angeblich eine Version der Skibrillen während der Boxenstopps).Laut Scott Sports repräsentiert das Prospect-Modell einen neuen Maßstab, in den fast drei Jahre Entwicklungsarbeit einflossen.

Scott Sports Prospect © Scott Sports

Scott Sports Prospect © Scott Sports

„Unser Hauptziel war es, das größtmögliche Sichtfeld zu schaffen; um dieses Ziel zu erreichen, haben wir in allen Bereichen nach Verbesserungen gesucht; nicht nur bei den Gläsern, auch bei der Stärke und den Abmessungen. Es war ein großes Projekt“, sagt Scott Sports-Chefingenieur Bertrand Didier. „Wir wussten, es muss ein neues Spitzenprodukt werden. Wir konnten es nicht einfach bei den ‘normalen’ Upgrades belassen. An der Prospect sollte es nichts geben, das mit unseren anderen Modellen vergleichbar ist. Passform, Gläserform, das Band … all diese Dinge sind anders.“

„Die größten Fortschritte im Bereich der Schutzbrillen betrafen in den letzten 10 Jahren vor allem die Passform, also Dinge wie den dreischichtigen Schaumstoff und andere Materialien, die wir eingesetzt haben; wie z.B. den Thermofoam, Materialien zur Schweißreduktion und die Weiterentwicklung bei der Gläserstärke“, erklärt er. „Die Farbe der Gläser hat sich nicht besonders verändert, genauso wie die Passform für alle Helme, denn sowas muss allgemein gehalten werden. Die Lebensdauer der Gläser zu verlängern und das größere Sichtfeld waren die wichtigsten Ziele.“

Hier hat die Prospect ins Schwarze getroffen. Sie bietet das beste Sichtfeld (die Höhe der Gläser sowie die Linsenkrümmung wurden erhöht, während der Rahmen verschlankt wurde) und ein neues Verschlusssystem, das ein wesentlicher Sicherheitsfaktor ist. Bei einem Preis von 100 Euro liegt die Brille im oberen Preissegment, reicht aber nicht an die Oakley Airbrake MX heran.

Wirft man einen Blick in die Regale der Händler, ist schnell klar, dass 100% ein gutes Händchen für Style hat und ihr Forecast-Dämpfungssystem ist ähnlich fortschrittlich wie das Sichtfeld von Scott. Oakley ist nach wie vor der größte Hauptakteur auf dem Markt. Die Auswahl ist groß, das Preisspektrum ebenso, aber die Bedeutung der Brillen sollte nicht unterschätzt werden. „Ich denke, dass eine Brille dich einen Rennsieg oder ein gutes Ergebnis kosten kann“, sagt der zweifache britische Meister und MXGP-Laufsieger Shaun Simpson. „Ich würde sagen, 99% der Probleme mit den Brillen sind auf schlechte Vorbereitung zurückzuführen oder ein Glas fällt heraus. Wenn du während eines Laufs die ganze Zeit im aufgewirbelten Dreck von jemandem fährst, dann musst du immer noch einigermaßen sehen, wo du hinfährst!“

Shaun Simpson (GBR) Lommel (BEL) 2016 © Ray Archer

Shaun Simpson (GBR) Lommel (BEL) 2016 © Ray Archer

Gut funktionierende und stylische Brillen sind aber nicht nur ein Interesse von Offroad-Fahrern. Vintage-Shops oder ein schneller Blick ins Internet bietet Optionen für alle Vintage-Brillen-Fans oder Custom-Bike-Fahrer, die auf der Suche nach ein bisschen Extravaganz sind. 2014 traf 100% mit dem Launch von ‘The Barstow’ den Nerv der Zeit; im Wesentlichen eine Brille mit Belüftung, dreischichtigem Schaumstoff, einem Ersatzglas und allen praktischen Vorteilen, die man mit einem funktionalen Offroad-Produkt verbindet; aber eben im straßentauglichem Stil. ‘The Barstow’ sorgte für Aufsehen und die fünf verfügbaren Designs führten zu verschiedenen Kooperationen, darunter eine mit dem Custom-Bike-Giganten Deus Ex Machina.

100% The Barstow © 100%

100% The Barstow © 100%

Wie werden sich Brillen in Zukunft weiterentwickeln? Der ehemalige FIM Motocross-Weltmeisterschaftszweite – zweimal in Red Bull KTM-Farben – Tommy Searle ist der Meinung, dass sich Innovationen deutlich langsamer entwickeln als die meisten Leute denken. „Es scheint, dass es alle fünf Jahre eine signifikante Veränderung bei den Schutzbrillen gibt; während meiner aktiven Zeit habe ich zwei große Weiterentwicklungen miterlebt“, sagt Searle. „Meist nimmt man es zuerst gar nicht so wahr, aber dann kommt jemand mit einer bedeutenden Weiterentwicklung, wie 100% mit der Forecast-Dämpfung, und dann ziehen die anderen Firmen nach.“

Mit fortschrittlichen Methoden wie GPS und Datenaufzeichnung (in der Lucas Oil AMA Pro National Motocross Meisterschaft wird in dieser Saison erstmals ein System namens LITPro verwendet, um die Fahrer- und Bike-Daten ganz im F1-Stil auf die TV-Bildschirme zu übertragen) stellte sich die Frage, ob Brillen auch zur Übertragung von Informationen genutzt werden können (etwas das Scott für seine Skibrillen bereits ausprobiert hat). Die Skepsis im Motocross-Fahrerlager, was Nutzen und Anwendbarkeit angeht, ist groß. Wahrscheinlich werden sich Entwicklung und Fortschritt eher auf eine längere Lebensdauer (polarisierte Gläser) und Leistung konzentrieren, so dass Kunden für ihr Geld trendige und funktional hochwertige Ware erhalten.

Wer weiß, wie weit die Optik-Spezialisten wirklich vorausschauen können?

Fotos: KTM | Ray Archer | Scott Sports | 100%