Finding the Flow: Von den Geheimnissen der Aerodynamik

Die Aerodynamik ist eine mysteriös anmutende Kunst. Es steckt in der Natur der Sache, dass Motorräder mit Fahrern nicht gerade die windschlüpfrigsten Fahrzeuge auf der Straße sind. Welche Anstrengungen unternimmt KTMs Forschungs- und Entwicklungsabteilung also in diesem Bereich und wie wird die Aerodynamik in das Design der orangefarbenen Bikes integriert? Wir wagten uns tief in die stillen und komplexen Technik-Bereiche der Firma aus Mattighofen, um nachzufragen …

Wenn die Worte Aerodynamik und Motorräder fallen, denken die meisten an Windtunnel und einen Fahrer, der auf dem Tank eines Sportmotorrads liegt, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu leisten. Anderen fallen dazu vielleicht die MotoGPTM und die merkwürdigen und zugleich wunderbaren Winglet-Experimente der letzten fünf Jahre ein. Wieder andere erinnern sich vielleicht an die ‚Eierschalenverkleidungen‘ der 1950er Jahre (großartig für den Speed auf den Geraden, aber eine Katastrophe in den Kurven und was die Seitenkräfte betrifft). Das Wort ‚Aerodynamik‘ klingt wichtig und interessant, aber bei KTM und wahrscheinlich auch allen anderen Herstellern stehen im Streben nach Effizienz der Komfort und die Performance im Vordergrund. „Unsere Tätigkeit beinhaltet viel Testarbeit … und unterscheidet sich stark davon, was sich Kunden vorstellen und erwarten“, verrät uns Nico Rothe, Head of Project Support Street. „Den meisten werden dabei ausschließlich die Performance und Windtunnel in den Sinn kommen. An den Druck auf die Brust und den Kopf des Fahrers und viele andere Dinge denken wahrscheinlich die wenigsten.“

Rothe leitet ein kleines, spezialisiertes Team in Österreich, welches auf jahrzehntelange Erfahrung bauen kann und bereits seit den ersten Gehversuchen des Unternehmens in der höchsten Klasse des Rennsports mit Projekt- und Entwicklungsarbeit in das MotoGPTM-Projekt involviert ist.

„80 % von dem, was wir [heute] tun, dreht sich um Komfortentwicklung und darum, wie sich der Fahrer auf dem Bike fühlt. Unser Ziel ist es, die Erfahrung komfortabel und sicher zu machen“, so Rothe. „In Wahrheit spielt sich fast unsere ganze Testarbeit auf der Teststrecke ab. Bei einem serienmäßig produzierten Straßen-Motorrad führen wir 300-400 Tests mit unterschiedlichen Versionen des Bikes durch, um den Komfort zu perfektionieren. Am Anfang – wenn es darum geht, die Dimensionen der Verkleidungsteile festzulegen – ist unsere Arbeit recht grob. Erst dann gehen wir ins Detail und kümmern uns um das Geräuschniveau und darum, den aero-akustischen Lärm zu reduzieren. Lärmreduzierung macht 50 % unserer Arbeit aus. Wir sprechen hier von Lärm – nicht von Geräuschen – und darum, diesen auf ein erträgliches Niveau zu reduzieren.“

Fokus auf Design
Das Modellaufgebot von KTM beinhaltet heute eine Reihe von Naked Bikes, ADVENTURE-Maschinen und natürlich Offroad-Modelle. Das Angebot reicht von Sport-Bikes mit geringem Hubraum bis zu Elektromotorrädern und Renn-Replikas und ist somit breit und vielfältig. Ebenso komplex sind demnach das Design und die Aerodynamik. Welche Rolle spielen Rothe und sein Team dabei?

„Wenn man über Aerodynamik und Design spricht, kommt man schnell zu der Frage, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei?“ Wir lassen aber immer zuerst die Designer ihre Arbeit machen, da wir ihnen schwerlich eine aerodynamisch perfekte Form vorlegen und ihnen sagen könnten, ein Design daraus zu kreieren … so funktioniert das nur in der MotoGPTM! Die Jungs aus der Rennabteilung haben ein aerodynamisches Konzept und die Verkleidung ist extrem funktionell. Dann kommen die Designer und dürfen ein paar Änderungen vornehmen, damit das Ding wie eine KTM aussieht. Unser Job als Aerodynamik-Spezialisten bei den Street-Bikes ist es, dafür zu sorgen, dass das originale Kiska-Design funktioniert … ohne es zu ändern.“

„Die Designer bringen viele Ideen ein, denken aber oft etwas anders als ein Techniker. Es gibt einige ästhetische Regeln zur Oberflächenbeschaffenheit, wir können aber viel mit Winkeln, Tiefen und bestimmten Elementen herumspielen. Wir sind in der Lage, ein Konzept zum Luftstrom abzuliefern, das von den Designern interpretiert und in eine großartige Optik umgewandelt wird. Die Anforderungen in der MotoGPTM, wo es um Performance-Aerodynamik geht, ändern sich regelmäßig und auch bei den Street-Modellen – wo es um Komfort-Aerodynamik geht – nehmen wir oft von Jahr zu Jahr viele Änderungen vor. Die Berechnung der Zahlen, um den Komfort eines Street-Bikes zu garantieren, unterscheidet sich grundlegend von der Luftwiderstandsbeiwerte in der MotoGPTM; es handelt sich um zwei verschiedene Welten der Entwicklung.“

KTM 790 DUKE-Konzept © KISKA

Werkzeuge und Talente
Rothe führt uns auch in die praktischen Details des Jobs ein. Zusätzlich zu der komplexen Arbeit im Windtunnel, welche aufgrund des Wissens der notwendigen Spezialisten sowie der Hard- und Software selbst extrem teuer kommt. „Wir haben einen modifizierten Prüfstand, auf dem wir den Luftstrom für die Kühlung festlegen können und dort verbringen wir sehr viel Zeit”. In ihrer täglichen Arbeit legen die Mitglieder des Forschungs- und Entwicklungsteams für Aerodynamik buchstäblich selbst Hand an.

„Wenn wir über Komfort-Aerodynamik sprechen, geht es um das Gefühl. Das Gefühl ist nur schwierig in Zahlen auszudrücken, ich glaube aber, dass wir in zehn Jahren mehr Möglichkeiten haben, das zu messen. Im Windtunnel setzt du einfach deinen Helm auf und bringst deinen Körper in eine gewisse Position, um Kräfte und verschiedene Stufen dynamischer Kräfte zu messen. Das wird aber nie das Gefühl und die Rückmeldung eines echten Fahrers ersetzen können. Die MotoGPTM ist ein gutes Beispiel: Die Aufzeichnung von Daten versorgt dich mit vielen Informationen, aber mindestens ebenso viel kommt vom Gefühl des Fahrers und dazu gibt es keine Daten. Bei der Komfort-Aerodynamik ist es genauso.“

„Du kannst natürlich mit Lehm herumspielen, um kleine Bereiche zu verbessern“, so Rothe weiter. „Wir arbeiten normalerweise mit Prototypen-Teilen aus einem hochmodernen 3D-Drucker. Manchmal aber auch mit Klebepistole, Klebeband und Schleifmaschine. Manchmal kommen wir uns vor wie Modellbauer!“

© KTM

Und was ist mit spezifischen Teilen? Und inwiefern sind die Aerodynamik-Spezialisten in die ‚Reise‘ eines neuen Bikes eingebunden? „Bei der Lärm- und Geräuschentwicklung spielt das Windschild die wichtigste Rolle; man kann das mit dem Feineinstellen eines Vergasers vergleichen. Die Aerodynamik kann nicht gleich mit dem ersten Prototypen fixiert werden. Dinge wie der Rahmen ändern sich andauernd. Wir gehören auch zu den letzten, die ihren Segen geben. Wir sind von Anfang an bis ganz zum Schluss involviert. Natürlich haben wir einige Meilensteine in einem Projekt, an denen wir bekanntgeben müssen, was fertig ist, damit andere Leute mit ihrer Arbeit beginnen können. Die Kleinarbeit geht aber weiter.“

„Am Anfang der Entwicklung sollte ein gewisser Anteil des Bikes recht früh fixiert werden; wenn du zum Beispiel die Form des Kraftstofftanks stark veränderst, wird die Luft nach oben verdrängt, was die Sache sehr schwierig machen könnte. Wir folgen bestimmten Schritten und beginnen insgesamt mit dem Windschutz und auch die Größe der Teile muss in einer frühen Phase festgelegt werden. Wenn das nicht funktioniert – und manchmal passen die Teile nicht zusammen – musst du auf die harte Tour mit zahlreichen Tests lernen, was sich abspielt. Der allgemeine Luftstrom auf den Körper muss passen, dann erst beschäftigen wir uns mit Spoilern und Lippen, um die Geräuschkulisse und die Verwirbelungen um den Kopf zu optimieren.“

„Die Produktspezifikation beinhaltet ein gewisses Niveau an aerodynamischem Komfort und manchmal müssen wir uns mit Höhenbeschränkungen für die Zulassung oder auch für Verpackung und Transport beschäftigen. Zusätzlich dazu ist es nicht einfach, dafür zu sorgen, dass ein Serien-Motorrad jedem Fahrer passt“, fügt er hinzu. „Über Standard-Elemente wie Fußrasten oder Lenker können Fahrer die Aerodynamik ihres Bikes aber selbst beeinflussen, während einstellbare Windschilder oder Sitzbänke bei Premium-Bikes sowie die über die KTM PowerParts erhältlichen Komponenten weitere Anpassungen ermöglichen.“

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© Marco Campelli/KTM

Wo, wann und wie
Wie man sieht, handelt es sich um einen weitreichenden Arbeits- und Entwicklungsbereich. Im Bereich der Motocross- und Enduro-Bikes etwa steht bei der Aerodynamik die Kühlung im Vordergrund. „Der Fahrer spielt hier eine untergeordnete Rolle“, so Rothe. „Der Unterschied zwischen guter und schlechter Kühlung ist im Design nicht so augenscheinlich; da geht es um kleine Schritte – kleine Führungen, um die Luft zum Motor und dann wieder heraus zu führen. Bei Rally-Motorrädern dient die Aerodynamik auch dem Komfort und der Reduzierung des Luftwiderstandes. Rally-Motorräder sind diesbezüglich eine große Herausforderung.“

Der Einsatz und die Evolution von Materialien ist derweil ein weiterer interessanter Bereich. „Die Steifigkeit ist ein wichtiger Punkt und wir beschäftigen uns oft mit dem Versteifen von Halterungen im Hinblick auf die aerodynamischen Belastungen. Dies stellt beim Simulieren ein Problem dar, da du die Flexibilität eines Bauteils nicht berechnen kannst. Es wird zukünftig interessant werden, im Zusammenhang mit Turbulenzen mit verschiedenen Oberflächen und ‚Unebenheiten‘ wie ‚Golfballeffekten‘ zu experimentieren. Das bedarf aber noch weitreichender Test- und Forschungsarbeit. Wir haben bereits begonnen, mit kleinen Löchern zu arbeiten, die bestimmte Effekt auflösen sollen, und auch die Optik wird sicher interessant werden. Besonders bei Offroad-Motorrädern.“

Bei bestimmten Projekten ist die Verwendung der neuesten Technologien praktisch unverzichtbar. „Es kommt ganz auf das jeweilige Bike an: Sollte sich KTM der Superbike-WM zuwenden oder eine MotoGPTM-Replika bauen, müssen wir Entwicklungsarbeit im Performance-Bereich leisten. Das wäre dann ohne CFD [Computational Fluid Dynamics] und Arbeit im Windtunnel nicht mehr möglich, da wir bis zum zweiten Prototypen ohne Motor und Fahrgestell auskommen müssten.“

„Der große Vorteil dabei ist, dass ich die Effekte, die ich spüre, wenn ich selbst auf dem Bike sitze, mit der CFD-Simulation vergleichen kann. CFD ermöglicht dir, sehr analytisch vorzugehen und zu sehen, woher Partikel kommen und welche Bahnen sie nehmen. Ich glaube, dass die aerodynamische Entwicklung in zehn Jahren ganz anders aussehen wird. Wir werden viele Werkzeuge und Prozesse zur Verfügung haben, die uns helfen werden, Vorgänge zu verstehen und schneller zu werden. Die Werkzeuge sind bereits verfügbar … aber das Feedback und auch nur eine CFD-Schleife zu erstellen, dauert noch viel zu lange. Manchmal ist es einfach schneller, ein Messsystem auf dem Bike aufzubauen und damit zu fahren … dafür brauchst du aber ein Fahrgestell und ein funktionierendes Bike!“

‚Sensibilität‘ scheint für Rothe und sein Team ein wichtiges Schlagwort zu sein. Ihre derzeitigen Bemühungen und das, was die Zukunft bringen mag, folgen derselben Philosophie. Wir konnten aber einige Meinungen dazu einholen, wie die Aerodynamik der KTM-Bikes in einigen Jahren aussehen könnte. „Wir sind überzeugt, dass die Bikes noch kompakter werden können und dass man in Sachen Lärm und Wind andere Elemente wie die Bekleidung und den Helm in die Überlegungen miteinbeziehen kann. Wir denken, dass der aerodynamische Komfort dank höherem Know-how noch verbessert werden wird. Das Geräuschniveau wird weiter reduziert werden und es gibt sogar die Chance, dass wir Auswirkungen auf das Helmdesign haben werden. Eventuell werden wir es Fahrern ermöglichen, die Kühlung zu beeinflussen, oder weitere Individualisierungs-Optionen wie aufsteckbare Windschilder anbieten. Elektrische Motorräder werden mit Sicherheit interessant werden und uns vor ganz andere Herausforderungen stellen; die Kühlung ist dabei zum Beispiel völlig anders.“

Komplex, gnadenlos und schwer vorauszusagen: das Thema ‚Aerodynamik und Motorräder‘ scheint so flüchtig wie die Luft, welche die KTM-Techniker vor so große und schwierige Aufgaben stellt. Abschließend betont Rothe, dass wir es mit einem langsamen, aber wissenschaftlichen Prozess zu tun haben. „Wir präsentieren fast jedes Jahr ein neues Modell, es ist also schwierig, zu einem allgemeinen Referenzrahmen zu gelangen. Viele unserer Street-Bikes waren Naked Bikes und unsere Expertise fußt auf dieser Art von Motorrad. Mit unseren ADVENTURE-Modellen und der KTM 1290 SUPER DUKE GT bauen wir Wissen auf und können die Designer mit weiteren Informationen versorgen und ihnen sagen, dass sie gewisse Elemente beibehalten sollen, wenn sie mit den Einschränkungen der verfügbaren Flächen kämpfen. Und dieses Wissen wird weiter anwachsen.“

Fotos: KISKA | KTM | Marco Campelli/KTM
Video: KTM