Hintern hoch!

Schauen Sie mal genau hin, wenn Sie Nicolò Bulega fahren sehen: Der KTM-Youngster sitzt selten richtig im Sattel. Am schnellen Vorwärtskommen hindert ihn das freilich nicht. Bereits in seiner Debütsaison rockt Bulega die Moto3-WM – trotz der eigentümlichen Körperhaltung.

Ach, die Jugend von heute! Kriegt den Hintern nicht hoch. Verplempert ihre Zeit zwischen Smartphone und Spielekonsole. Ist doch so, oder? Wir gähnen einmal ob des platten Vorurteils und präsentieren den Gegenentwurf: Nicolò Bulega, KTM-Pilot im Sky Racing Team VR46 und so etwas wie ein Muster-Lehrling. Bereits in seiner ersten Moto3-Saison ist der 16-Jährige bravouröser Fünfter im WM-Klassement.

Nicolò Bulega kriegt seinen Hintern hoch. Gar höher als ihm lieb ist, um genau zu sein. Denn nur so, mit hochgestrecktem Hinterteil, bekommt der Schlacks aus San Clemente nahe Rimini seine 1,80 Meter hinter die Verkleidung der Moto3-KTM gefaltet. Auf den Geraden schwebt Bulega stets einige Zentimeter über dem Sattel, einem Jockey gleich. Erst kurz vor dem Bremspunkt presst sich Bulega wieder in die Sitzmulde. Auf der folgenden Geraden dasselbe Spiel: Hintern hoch.

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Nicolò Bulega (ITA) KTM RC250 GP 2016 © Marco Campelli

Seine Ingenieure können in den Datenaufzeichnungen nachvollziehen, wann sich Bulega wieder nach unten begeben hat. Jedes Mal nämlich, wenn der Sensor am hinteren Dämpfer ein eigentlich unerklärliches Einfedern registriert.

So wird ein Moto3-Rennen für Bulega zu einem permanenten hoch-runter-hoch-runter. Dass sein ebenfalls groß gewachsener Teamboss, der neunfache Weltmeister Valentino Rossi, gerne erklärt, ihm käme seine Körpergröße zugute, weil er so auf der MotoGP-Yamaha besser mit der Gewichtsverlagerung arbeiten könne, hilft Bulega wenig. Was auf der MotoGP-Maschine hilfreich ist, gerät auf der zierlichen Moto3-KTM zum Nachteil.

Es stellt sich die Frage, wie Bulega es schafft, trotz dieses Handicaps derart schnell Motorrad zu fahren. Ein bisschen mehr Glück sowie einen Fahrfehler weniger und er hätte bereits seinen ersten Grand Prix 2016, das Nachtrennen in Katar, gewonnen. Die erste Pole Position sicherte er sich in Jerez, gefolgt von Platz 2 tags darauf im Rennen. Abgesehen vom Argentinien-Grand Prix, wo Bulega auf nasser Piste mit dem falschen Set-up unterwegs war, und dem technisch bedingten Ausfall in Mugello beendete er jedes Rennen in den Top 10. Macht WM-Position 5. Wen wundert´s, dass die Journaille zuhause in Italien schon vom neuen Valentino Rossi schwärmt. Aber das haben sie 2012, als Bulegas heutiger Teamkollege Romano Fenati bei seinem zweiten Grand Prix zum Sieg stürmte, auch getan. Bis heute ist Fenati nicht über die Moto3 hinaus gekommen.

Nicolò & Nathalie Gina Bulega (ITA) Assen 2016

Nicolò & Nathalie Gina Bulega (ITA) Assen 2016 © SKY Racing Team VR46

Fahrerlager Assen, Donnerstag vor dem Rennen. Nathalie Gina Bulega kann ihre Augen nicht vom Bildschirm in der Hospitality des VR46-Teams nehmen. Es läuft ein Live-Interview ihres Sohnes, aus dem Übertragungswagen des Pay-TV-Senders und Teamsponsors Sky, drüben am anderen Ende des Fahrerlagers. Etwas verschüchtert, mit verschränkten Armen, sitzt Nicolò da, beantwortet artig die Fragen des Sky-Interviewers. Auf Mamas Gesicht steht ein stolzes Lächeln.

Dann kommt Nathalie Gina rüber an unseren Tisch. Sie ist Deutsche, wuchs in Berlin auf, bevor die Eltern nach Italien zogen. Ihr Deutsch hat sie nicht verlernt. Also, Frau Bulega, wie war das mit dem kleinen Nicolò? „Ein Teufel war er“, sagt sie und erzählt, wie ihr Ehemann, der Ex-250-ccm-WM-Pilot Davide Bulega, den kleinen Nicolò, damals zarte acht Monate alt, auf ein Elektro-Dreirad setzte. Laufen konnte Nicolò nicht, aber am Gasgriff drehen. Also fuhr das Dreirad los, rüber an die Wohnzimmerwand. Bumm. Mama drehte das Dreirad herum, Nicolò zog wieder am Gasgriff und rollte rüber zur gegenüberliegenden Wand. Bumm. So ging das stundenlang. Andere Mütter füttern ihre Kinder, indem sie mit dem Löffel voller Brei ein Flugzeug simulieren, das im Mund des Kleinen landet. Mama Bulega drehte Nicolòs rechte Hand, wie beim Gasgeben gleich – bereitwillig nahm Nicolò seinen Brei.

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Nicolò Bulega (ITA) 2000 © SKY Racing Team VR46

Mit zwei Jahren lernte Nicolò das Fahrradfahren, mit vier fuhr er ein Minimoto-Bike. Danach gewann er so ziemlich alles, was man auf dem Weg in den Grand Prix-Rennsport gewinnen kann: Minimoto, PreGP 125, PreGP 250, spanische CEV-Moto3-Meisterschaft. Eine Karriere in Stromlinienform. Dem Bild der Klischee-Rennfahrer-Eltern, die den Sohn kompromisslos auf die große Karriere trimmen, entsprechen die Bulegas dennoch nicht. „Nicolò ist jung, er darf Fehler machen, egal ob auf oder neben der Piste“, sagt Nathalie Gina. Sie und ihr Mann wüssten, wie schnelllebig die Motorsportwelt ist, dass der Traum von der WM-Karriere schnell zu Ende sein kann. Auch Laura, die Pressedame des Sky-VR46-Teams, bestätigt: „Nicolò hebt nicht ab, da passen die Eltern gut auf.“

Beispiele, bei denen das vermeintliche Supertalent dem hohen Druck nicht standhielt, gab es in der Motorrad-WM zuletzt mehrere. Siehe Karel Hanika, nach dem Gesamtsieg im Red Bull MotoGP Rookies Cup als zukünftiger Champion gehandelt. Der Tscheche scheiterte sowohl im KTM-Werksteam als auch im Platinum Bay-Real Estate-Mahindra-Team. Jetzt droht das Karriere-Aus. „Ja“, sagt Mama Bulega, „solche Fälle sind uns eine Warnung.“

Nicolò Bulega (ITA) KTM RC250 GP Jerez (ESP) 2016

Nicolò Bulega (ITA) KTM RC250 GP Jerez (ESP) 2016 © Marco Campelli

Dann öffnet sich die Schiebetür der Hospitality, Nicolò kommt herein und setzt sich zu uns. Nein, beteuert er, Mama und Papa hätten ihn nie gedrängt. Vielmehr sei er es gewesen, der immer auf dem Motorrad sitzen wollte. Im vergangenen Jahr hat er, zum frühest möglichen Zeitpunkt, die Schule beendet. Seither dreht sich sein Leben um den Rennsport. 18 Grand Prix-Wochenenden. Dazwischen vier Mal wöchentlich jeweils vier Stunden Kraft- und Ausdauertraining. Testfahrten. PR-Termine. Trainieren zusammen mit Teamchef Valentino Rossi und anderen Nachwuchspiloten von Rossis Riders Academy auf dessen Flat Track im nahen Tavullia. Englischstunden in der Riders Academy. Wie soll da Zeit bleiben für ein Leben außerhalb des Motorsports? „Na ja“, sagt Nicolò und gesteht, dass sein Freundeskreis weitestgehend aus anderen Rennfahrern besteht.

Dass Nicolò in Rossis VR46-Team fährt, fügt sich ins Bild. Zu seinem ersten Schultag war er einst mit einem Schulranzen in Rossi-Design marschiert. Einige Jahre später harrte er beim Mugello-Grand Prix zwei Stunden lang vor Rossis Motorhome aus, ehe der große Meister zu einem Foto herauskam. Und 2013, Nicolò hatte sich mittlerweile durch diverse Nachwuchsklassen gesiegt, war es Rossis Vater Graziano, der ihn auf Rossis Flat Track einlud. Ein Probefahren gewissermaßen. Als Valentino sah, wie schnell der kleine Nicolò um die Kurven fegte, war der Grundstein für die zukünftige Zusammenarbeit gelegt.

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Nicolò Bulega (ITA) 2005 © SKY Racing Team VR46

Im Rahmen des Assen-Grand Prix verkündete Valentino Rossi nun, dass er den Vertrag mit Nicolò Bulega um weitere zwei Jahre, bis einschließlich 2018, verlängert habe. 2017 soll ein zweites Jahr in der Moto3 folgen, 2018 könnte er in die Moto2 aufsteigen. Es deutet vieles darauf hin, dass dem schüchternen Jungen aus San Clemente eine große Karriere bevor steht. Auch wenn er, zumindest bis auf weiteres, seinen Hintern immer ein wenig in die Höhe strecken muss.

Fotos: SKY Racing Team VR46 | Marco Campelli