Home sweet home

Im Kalender eines jeden MXGP-Fahrers ist ein Rennen immer besonders fett markiert – das Heimrennen. Auf kein Rennen freuen sich MXGP-Fahrer mehr. Vor Heimpublikum zu fahren, ist einfach ein ganz besonderes Gefühl. Geht es aber vielleicht doch um mehr? Wir haben uns mit den beiden niederländischen KTM-Werksfahrern sowie einer Sportpsychologin getroffen, um mehr über den Effekt eines Heimrennens herauszufinden.

Assen (NED) 2018 © Shot Up Productions

„Je länger du darüber nachdenkst, desto eigenartiger wird das Ganze“, sagt Glenn Coldenhoff. „Wenn du in deinem Heimatland fährst, hast du das Gefühl, dass du noch mehr als normal geben kannst. Auch wenn es technisch gar nicht schwieriger ist als irgendein anderer Grand Prix, von denen es schließlich noch jede Menge gibt.“ Der Fahrer aus dem Red Bull KTM Factory Racing Team kann sich glücklich schätzen: Als Niederländer hat er mit Valkenswaard und Assen gleich zwei Heimrennen im Kalender. Nur den Italienern geht es mit insgesamt drei Rennen auf italienischem Boden noch ein bisschen besser. ‚Zuhause‘ zu fahren sei definitiv von Vorteil, ist Coldenhoff fest überzeugt. „In Valkenswaard hörst du die Fans nicht gut, dafür siehst du aber die Fahnen und wie sie dir zuwinken. In Assen gibt es riesige Tribünen, die den ganzen Kurs kompakter erscheinen lassen, und du kannst die Fans hören, wenn sie neben der Strecke jubeln. Das macht dich noch schneller, aber messen kann man das wohl kaum. Schließlich will ich auch in Spanien oder Italien so gut wie möglich abschneiden – in diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied.“ Von den Vorteilen mal abgesehen, fallen dem zweimaligen GP-Sieger keine Nachteile ein. „Wenn ich unbedingt etwas nennen müsste, würde ich sagen, dass die Aufmerksamkeit der Medien belastend ist. Bei einem Heimrennen geht es immer hektischer zu und du bist immer von vielen Menschen umgeben.“

Jeffrey Herlings sieht die Sache ähnlich wie sein Landsmann und Teamkollege. „Man erwartet von dir, dass du gut abschneidest, und du willst den Fans die Show bieten, für die sie gekommen sind“, so der frischgebackene MXGP-Weltmeister. „Das erhöht den Druck natürlich etwas. Valkenswaard ist ein gutes Beispiel. Ich habe den GP dort sieben Mal in Folge gewonnen. Mit so einem Lauf im Hinterkopf erwartet so gut wie jeder von dir, auch beim nächsten Mal wieder zu gewinnen. Wenn du das nicht schaffst [Herlings wurde 2017 Zweiter] fühlt sich das an, als wenn du versagt hättest.“

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Glenn Coldenhoff (NED) KTM 450 SX-F Assen (NED) 2018 © Shot Up Productions

Emotionen kontrollieren
Obwohl sowohl Coldenhoff als auch Herlings hauptsächlich positive Energie aus ihren Heimrennen ziehen, sind gute Resultate vor Heimpublikum auf keinen Fall garantiert. Sportpsychologin Afke van de Wouw arbeitet seit Jahren mit einzelnen Athleten und professionellen Teams und konnte so viel über den Spitzensport und darüber, welche Rolle die Psyche spielt, lernen. Es ist wichtig, nie den Kontext aus den Augen zu verlieren, wenn man herausfinden möchte, ob es so etwas wie einen Heimvorteil gibt, meint Van de Wouw. Sie ist überzeugt davon, dass man immer das große Ganze betrachten muss. „Oft betrachten wir die mentalen und körperlichen Aspekte losgelöst voneinander. Damit macht man aber schon den ersten Fehler“, so Van de Wouw. „Wir brauchen Energie, um unsere Emotionen zu kontrollieren. Wenn unser Körper ausgepowert ist, schränkt das unsere Fähigkeit ein, unsere Gefühle unter Kontrolle zu halten.“ Um das Ganze noch komplizierter zu machen, muss man sich auch ansehen, wie der Athlet mit bestimmten Situationen umgeht. Kurz gesagt geht es darum, wie ein MXGP-Fahrer den Druck eines Heimrennens verarbeitet. „Man sollte sich dabei auf keinen Fall auf die Resultate beschränken, sondern analysieren, wie es zu besagten Resultaten kommt. Um das zu erläutern, bediene ich mich gerne des Beispiels der Elfmeter im Fußball. Wissenschaftliche Studien belegen, dass der Teamkapitän – oft ein älterer, erfahrenerer Spieler – im Angesicht derselben stressigen Spielsituation wesentlich öfter daneben schießt als ein jüngerer Spieler. Man würde erwarten, dass der erfahrene Teamkapitän bereits alles erlebt hat und dass ihm das einen Vorteil verschafft. Schließlich sollte er genau wissen, was er zu tun hat, um Erfolg zu haben. Der Heimvorteil fällt in dieselbe Kategorie. Es kann das Selbstvertrauen des Sportlers stärken, manche Athleten können aber nicht so gut mit Druck umgehen, was dazu führt, dass negative Gedanken außer Kontrolle geraten. Diese Athleten haben das Gefühl, dass alle Augen auf sie gerichtet sind und dass alle Fans an der Strecke sie anfeuern – und ein gutes Resultat erwarten. Es kommt wirklich auf die mentale Stärke des Athleten an, wenn es darum geht, wie er mit den Herausforderungen einer bestimmten Situation umgeht.“

Afke van de Wouw © Dre Schouwenberg

Mentale Belastbarkeit
Glenn Coldenhoff weiß genau, was gemeint ist. Ein Heimrennen kann für einen Athleten die Hölle sein. Letztes Jahr schnitt Coldenhoff im zweiten Rennen auf der künstlichen Strecke von Assen nicht so gut ab, ließ sich davon aber nicht beirren. „In den beiden Jahren zuvor war ich in Assen am Podium gewesen und kam deshalb voller Zuversicht an die Strecke. Du setzt dich dann selbst unter Druck und feuerst dich an – in dem Wissen, dass du das Zeug für einen Spitzenplatz hast. Das zweite Rennen lief dann aber gar nicht nach Plan. Ich stürzte und mein Bike flog in einen der VIP-Bereiche. Auf jeder anderen Strecke hätte ich das Bike wohl dort liegengelassen und das Rennen aufgegeben. Ich hatte starke Schmerzen, aber auch das Gefühl, dass ich es den Fans schuldig war, es bis ins Ziel zu schaffen. Die flippten dann auch völlig aus, obwohl ich als Letzter dem Feld hinterher fuhr. Ich war natürlich enttäuscht, hatte aber nichts anderes im Sinn als weiterzufahren.“

Jeder Athlet ist mental belastbar und hat die Fähigkeit, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Sportpsychologin Van de Wouw sagt, dass circa 40 % davon vererbt ist. „Die genetischen Bausteine, die wir von unseren Vätern und Müttern mitbekommen, geben uns einen bestimmten Körperbau und Charakter. Betrachtet man das Glas als halb voll oder halb leer? Die Antwort auf diese Frage ist praktisch vordefiniert, mit Training kann man aber gewisse Veränderungen erzielen.“

Die meisten Athleten konzentrieren sich beim Trainieren auf körperliche Stärke und Ausdauer, mit den Mitteln der Psychologie könnten sie aber noch mehr aus sich herausholen. Van de Wouw dazu: „Zu verlieren und es dennoch immer wieder aufs Neue zu versuchen, hilft dem Athleten, mit der mentalen Seite des Spitzensports umzugehen, aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die meisten ignorieren diese Seite ihres Trainings viel zu lange. Jeder Athlet hat mindestens einen Trainer, der ihn dabei unterstützt und schult, wie man körperlich und technisch besser wird. Meist wenden sie sich erst dann der Psychologie zu, wenn es mentale Probleme gibt.“

Glenn Coldenhoff (NED) KTM 450 SX-F Assen (NED) 2018 © Shot Up Productions

Erfolg vor Heimpublikum
Erst wenn Athleten psychisch am Boden sind, wenden sie sich an einen Sportpsychologen. „Ich habe schon hunderte von Athleten gefragt, welchen Prozentsatz ihrer Performance sie psychologischen Faktoren zurechnen? Die meisten von ihnen glauben, dass es deutlich mehr als 50 Prozent sind. Danach gefragt, geben die meisten aber zu, dass sie ihre mentalen Fähigkeiten so gut wie nie trainieren. Das ist schon etwas merkwürdig. Sie sind sich bewusst, dass die mentale Komponente eine große Bedeutung hat, wissen aber scheinbar nicht, dass diese Fähigkeiten genauso trainierbar sind.“

Das gilt auch für Heimrennen. Dass ein Athlet bei einem Spiel oder Rennen im Heimatland besser abschneidet, ist alles andere als fix. „Die Nerven spielen da mit und können den Fahrer blockieren – und ihn davon abhalten, sein ganzes Potential zu nutzen. Es kann sein, dass beim Training noch alles optimal läuft, der Fahrer beim tatsächlichen Rennen dann aber nicht gut abschneidet. Oft ist es der Druck, vor Heimpublikum ein gutes Resultat abliefern zu müssen, der die Chancen eines Fahrers, tatsächlich ein solches Resultat einzufahren, zunichtemacht.“

Mit Hilfe der richtigen Methoden kann ein Athlet die nötige mentale Belastbarkeit entwickeln. Sportpsychologin Afke van de Wouw meint, dass es von größter Wichtigkeit ist, dass Trainer und Coaches ihr Repertoire erweitern, um die mentale Stärke ihrer Schützlinge zu steigern. „Ich spreche regelmäßig mit verschiedenen Athleten aus verschiedenen Disziplinen, kann aber nicht immer bei ihnen sein. Ein Trainer oder Coach kann einen Athleten wesentlich effektiver betreuen. Wenn der besagte Trainer immer betont, wo etwas falsch gelaufen ist, wird der Fahrer ein negatives Selbstbild entwickeln. Eine große Rolle spielt dabei die Gestaltung des Trainingsplans. Es geht darum, kleine Schritte zu machen und sich kleine Ziele zu setzen. Auf diese Weise geht der Athlet positiv ans Training heran, denn obwohl die Erfolge kleiner sind, treten sie öfter auf. Dieser positive Ansatz stärkt das Selbstvertrauen und ermöglicht dem Athleten, seine Leistung von diesem Punkt ausgehend aufzubauen.“

Jeffrey Herlings (NED) KTM 450 SX-F Assen (NED) 2018 © Shot Up Productions

Positive Effekte
Merkwürdigerweise kann der Vorteil, den man aus einem Heimrennen zieht, auch Konkurrenten beeinflussen. Coldenhoff – in diesem Fall besagter Konkurrent – weiß genau, wie das läuft. „Sagen wir mal, ich fahre in Frankreich und jage einem französischen Fahrer hinterher. Er wird von seinem Heimpublikum angefeuert, was wiederum mich anspornt, zu zeigen, dass mich das nicht beeindruckt. Das treibt mich nur noch mehr an, ihn zu überholen.“ Das ist nur ein Beispiel dafür, wie psychologische Kriegsführung in diesem Sport funktioniert. Natürlich versuchen Fahrer dauernd, ihre Gegner auch mental zu verunsichern. Manchmal kann das aber gründlich nach hinten losgehen. Van de Wouw dazu: „Die Olympiasiegerin im Schwimmen, Inge de Bruijn, hat mir einmal erzählt, wie eine Konkurrentin versuchte, sie mental zu brechen, indem sie kurz vor Wettkampfstart in De Bruijns Bahn spuckte. So etwas kann einen Athleten völlig aus dem Konzept bringen. Im Fall von Inge führte es aber dazu, dass sie die negative Energie in Kraft umsetzte, um ihrer Gegnerin zu zeigen, wer hier das Sagen hat.“

Auch beim bevorstehenden MX of Nations wird der positive Einfluss des Heimrennens eine Rolle spielen. Nur selten bekommen Fahrer die Chance, beim jährlichen MX of Nations vor Heimpublikum zu fahren. Dennoch können sich Coldenhoff und Herlings dieses Mal auf eine großartige Atmosphäre freuen und mit der richtigen Einstellung kann auch das MX of Nations ein Heim-GP sein. „Ich spüre das ganz stark, da ich sehr patriotisch bin. Deshalb ist es für mich eine besondere Ehre, mein Land zu vertreten. Das gibt mir einen zusätzlichen Schub, genau wie ein Heimrennen“, macht Herlings klar. Coldenhoff geht es vor dem jährlichen MX of Nations ähnlich. „Diese Rennen sind immer etwas Besonderes und ich freue mich riesig darauf, die Farben meines Landes hochzuhalten. Insbesondere, da unser Team in den letzten Jahren extrem stark war und die niederländischen MX-Fans viel Grund zum Jubeln hatten.“

Noch nie konnte ein Team aus den Niederlanden das MX of Nations gewinnen. Vielleicht ist es ja 2019 so weit, wenn das niederländische Team den Heimvorteil nutzen kann. Nächstes Jahr wird das MX of Nations auf der künstlichen Strecke in Assen ausgetragen. Coldenhoff: „Das MX of Nations in den Niederlanden ist für uns eine großartige Chance. Der Sieg ist natürlich zum Greifen nah, in Assen werden wir aber einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen Ländern haben. Trotzdem musst du bei einem so wichtigen Rennen vor Heimpublikum zuerst einmal gut fahren. In diesem Sport gibt es keine Garantien – das MX of Nations gewinnst du nicht ‚so einfach‘. Ein kleiner Fehler und schon liegst du an letzter Stelle. Und von dort noch aufs Podium zu kommen, ist so gut wie unmöglich. Auf jeden Fall hat unser Team das Zeug dazu, den Niederlanden den ersten Sieg beim MX of Nations zu bescheren – und das im eigenen Land.“

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Assen (NED) 2018 © Shot Up Productions

Fotos: Jarno van Osch/Shot Up Productions | Dre Schouwenberg