#inthisyear1955: KTM präsentiert den Mirabell Roller

Die 50er Jahre – Motorroller gehörten damals genauso zum Stadtbild wie heutzutage die schnittigen Scooter. Als robuste Alltagsgefährte wurden sie überwiegend für den täglichen Weg zur Arbeit genutzt, dabei boten sie einen besseren Wetterschutz als die unverkleideten Motorräder. Auch bei KTM haben Motorroller eine lange Tradition. Vor 60 Jahren stellte die junge Motorradfabrik ihren ersten Roller vor; den Mirabell, benannt nach Schloss Mirabell, einem beliebten Touristenziel in Salzburg.

KTM Mirabell

KTM Mirabell Roller

Der Zweite Weltkrieg lag zehn Jahre zurück und auch Österreich konnte am wirtschaftlichen Aufschwung, dem „Wirtschaftswunder“, teilhaben. Mit steigenden Löhnen war ein motorisierter Untersatz für viele kein unerreichbarer Traum mehr, sondern Wirklichkeit geworden, wenn es auch noch nicht für ein Auto reichte. Oft stellte sich da die Frage, ob es ein Motorrad oder ein Motorroller sein sollte, der zwar nicht so sportlich wie ein Motorrad war, aber durch seine oft ausladende Verkleidung einen recht guten Schutz vor Verschmutzung auf den damals noch schlechten Straßen bot. KTM – die Firma hieß nach dem Einstieg von Gesellschafter Ernst Kronreif seit 1955 „Kronreif & Trunkenpolz, Mattighofen“ – entschloss sich, nach R 100, Tourist und Grand Tourist einen Motorroller als viertes Modell ins Verkaufsprogramm aufzunehmen. Ende des Jahres präsentierte man dann den Mirabell Roller. Die Presse war voll des Lobes über die gelungene Neuerscheinung. Nomen est omen: Getreu der Bedeutung des Wortes „Mirabell“ – bewundernswert und schön – war der neue KTM Roller nach damaligem Geschmack schneidig, gediegen und elegant, während andere Hersteller ihre „Kraftroller“, so die amtliche Bezeichnung, teilweise als „Autoroller“ oder sogar als „Auto auf zwei Rädern“ anboten.

KTM Mirabell Werbung

KTM Mirabell Plakat

Unter der für heutige Verhältnisse doch recht voluminösen Blechverkleidung werkelte der aus den Tourist-Modellen bekannte sechs PS starke Rotax-Motor mit 125 ccm und Dreigang-Schaltung, der natürlich dem speziellen Einsatzzweck angepasst war. Wegen des fehlenden Fahrtwindes kühlte ein Gebläse den Zylinder, das Lüfterrad saß auf dem „Dynastarter“, einer Lichtmaschine, die gleichzeitig auch als elektrischer Anlasser fungierte. Geschaltet wurde wie bei einem Motorrad mit dem Fuß. Die 12-Zoll großen Räder wurden in einer geschobenen Schwinge und einer hinteren Triebsatzschwinge geführt und beim Tanken musste man nicht erst mühsam die Sitzbank hochklappen – der Einfüllstutzen für den 8-Liter-Tank befand sich im Scheinwerfergehäuse. Was heute im Zeitalter von ADVENTURE & Co. kaum noch vorstellbar ist: Nicht nur für den täglichen Weg zur Arbeitsstelle taugte Mirabell, der Roller war auch langstreckentauglich, was ein Wiener bewies, der mit dem KTM-Roller Europa vom Nordkap bis zu den griechischen Meteora-Klöstern bereiste.

1957 bekam Mirabell mit dem „Mopedroller“ Mecky einen kleinen Bruder. Fanden bei KTM bisher nur Sachs-Motoren Verwendung, die bei Rotax in Lizenz gefertigt wurden, so entstand das Mecky-Triebwerk von der Konstruktionszeichnung bis zur Fertigung komplett in Mattighofen – der erste eigene KTM Motor in der langen Firmengeschichte. Auch das Fahrgestell war für damalige Verhältnisse recht modern – die Federung erfolgte über Gummi-Torsionselemente und die formschönen Räder waren sogar aus Aluguss gefertigt.

KTM Mecky

KTM Mecky Mopedroller

Ein Jahr später wurde der Mirabell-Roller kräftig überarbeitet. Während die Karosserie weitgehend unverändert blieb, hatten die Kunden nun die Auswahl zwischen einer 125 ccm- und einer 150 ccm-Version mit Viergang-Getriebe. Fahrwerksmäßig wurde die Torsionsfederung und die Gussräder übernommen, die sich bei Mecky bewährt hatten. Von den Straßenmodellen stammte der „Frankfurter Topf“, ein von dem deutschen Juristen (!) Dr. Leistritz erdachter Auspuff, der neben einer geringeren Geräuschentwicklung, auf die man schon in den 50er Jahren großen Wert legte, zusätzlich noch eine höhere Leistung brachte.

Ende der 50er Jahre traf die europäische Motorradkrise auch KTM und die Verkaufszahlen brachen ein. Während die deutschen Konkurrenten ihr Heil vergeblich im Kleinwagenbau suchten, blieb KTM dem motorisierten Zweirad treu, konzentrierte sich aber auf Fahrzeuge mit 50 ccm, für die hohe Zuwachsraten erwartet wurden. Als Nachfolger des Mecky, der sich besonders in einer leistungsstärkeren zweisitzigen Variante gut verkaufte, gab es seit 1960 den Ponny, der mit Heckflosse, Weißwandreifen und Doppelscheinwerfer  Stylingelemente amerikanischer Straßenkreuzer aufgriff. Die Konstruktion war so gelungen, dass der deutsche Nähmaschinen- und Mopedhersteller Gritzner den Ponny als „KTM de Luxe“ in sein Programm aufnahm und schon 1961 mit 14.000 verkauften Exemplaren Marktführer in Deutschland war. Nach 40.000 Ponny-Rollern folgte das Ponny II genannte Nachfolgemodell, ein echter Dauerbrenner, der nicht weniger als 26 Jahre nahezu unverändert produziert wurde und auch im Ausland von anderen Herstellern unter deren Namen vertrieben wurde.

KTM Ponny De Luxe

KTM Ponny De Luxe

Wie KTM sich den emissionsfreien Scooter der Zukunft vorstellt, war 2013 auf der Tokyo Motorcycle Show zu sehen, wo die sportlich orientierte Konzeptstudie „E-Speed“ zum Thema „urban mobility“ präsentiert wurde.

Die sogenannten „Blechroller“ der 50er und 60er Jahre haben eine große Fangemeinde. Die stolzen Besitzer hegen und pflegen ihre Schätze und nehmen damit an Oldtimer-Rallys teil. Und mit etwas Glück kann man bei den Treffen auch den ein- oder anderen perfekt restaurierten Mirabell bestaunen.

Fotos: KTM | Leo Keller