#inthisyear1955: KTM präsentiert KTM Grand Tourist auf der Wiener Frühjahrsmesse

1955 – sechzig Jahre liegt das nun zurück. Viele von uns kennen die Welt von damals nur aus den Erzählungen der Eltern. 1955 wird der Argentinier Juan Manuel Fangio zum dritten mal Formel 1-Weltmeister, der vierfache Weltmeister Alain Prost, einer von Fangios Nachfolgern, erblickt im gleichen Jahr das Licht der Welt, ebenso wie Microsoft-Gründer Bill Gates oder Steve Jobs, einer der Apple-Begründer. Das Genie Albert Einstein, einer der bedeutendsten Physiker, stirbt und Hollywood-Idol James Dean kommt bei einem Autounfall in seinem Porsche Spyder ums Leben. Bill Haley’s „Rock Around The Clock“ führt die Charts an und der Evergreen und Millionenseller „Unchained Melody“ wird geschrieben.

Die Motorradwelt war noch in Ordnung, das Ende des Zweiten Weltkrieges lag bereits zehn Jahre zurück und mit der Wirtschaft ging es wieder aufwärts. Viele konnten sich nun einen motorisierten fahrbaren Untersatz leisten, wenn auch für die meisten ein Auto noch nicht erschwinglich war. Dafür waren aber Motorräder sehr populär, der fehlende Wetterschutz wurde dabei notgedrungen in Kauf genommen.

Auch KTM Gründer Hans Trunkenpolz hatte früh die Zeichen der Zeit erkannt und 1953 das erste KTM Motorrad der Öffentlichkeit vorgestellt. War die R 100 mit Seilzugstarter und handgeschaltetem Zweigang-Getriebe technisch noch recht einfach konstruiert, so folgte ein Jahr später die R 125 Tourist, das „Motorrad für Beruf und Reise“.

Der Rotax-Motor, ein österreichischer Lizenzbau des modernen Sachs-Motors, wurde nun mit einem Kickstarter zum Leben erweckt, die Leistung von gut 6 PS über ein fußgeschaltetes Dreigang-Getriebe auf die Straße gebracht. Mit der Tourist befand sich KTM nun auf Augenhöhe mit den überwiegend aus Deutschland stammenden Konkurrenzfabrikaten.
55_Sachs_4
1955 präsentierte die noch junge Marke dann auf der Wiener Frühjahrsmesse mit der Grand Tourist ihr drittes Modell. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zur Tourist war die neue Vordergabel, die von der 125ccm-Rennmaschine übernommen wurde. Statt einer Teleskopgabel wurde eine dreidimensionale Konstruktion mit geschobener Langschwinge eingesetzt, nach ihrem Erfinder Earles-Gabel genannt. Wenn die Earles-Gabeln auch seit den 70er Jahren als technisch überholt gelten und allenfalls noch bei Motorrädern mit Seitenwagen eingebaut werden, so gab es seinerzeit bei KTM gewichtige Gründe für einen Umstieg von der Telegabel auf eine Earles-Schwinggabel.

Die Teleskopgabeln der 50er Jahre kann man nicht mit den Hightech-Gabeln der heutigen Zeit vergleichen. Vor sechs Jahrzehnten dienten die Gabeln hauptsächlich der Vorderradführung und Federung. So waren sie alles andere als verwindungssteif und eine funktionierende Dämpfung suchte man auch vergeblich, die Öl- oder Fettfüllung der Telegabeln diente lediglich zur Schmierung der aufeinander gleitenden Teile. Insofern machte eine Earles-Gabel damals aus technischer Sicht Sinn, konnte man dadurch doch auf hydraulisch gedämpfte Federbeine zurückgreifen, wie sie sich zur Hinterradfederung schon lange bewährt hatten.

Analog der gezogenen Hinterschwinge stützte sich die nun geschobene Vorderschwinge über zwei ölgedämpfte Federbeine gegen die Gabelholme ab. Die technischen Nachteile wie das hohe Trägheitsmoment der schweren Rohrkonstruktion konnte man damals noch vernachlässigen. Dafür tauchten die Gabeln beim Bremsen nicht mehr ein, weil sich die Fahrzeugfront konstruktionsbedingt aufstellte, ohne aber die Federung zu verhärten. Dazu waren alle vier Federbeine der Grand Tourist gleich lang und konnten zur Überholung zerlegt werden, ein nicht zu unterschätzender Vorteil bei einem Defekt. Schon bald waren Earles-Gabeln „state of the art“ und sogar erste Wahl für Halbliter-Grand Prix-Rennmaschinen. Erst ein Jahrzehnt später schlug wieder die Stunde der Telegabeln, als Firmen wie Ceriani moderne Gabeln mit funktionierender Dämpfung anboten.
10299_KTM_Grand_Tourist_125_1812
Mit der Grand Tourist waren aber nicht nur Verkaufserfolge, sondern auch sportliche Erfolge verbunden. Anders als bei den speziellen Konstruktionen der Straßenrennmaschinen setzte KTM im Geländesport auf seriennahe Technik. Was lag da also näher, als auf das stabile Schwingen-Fahrgestell der Grand Tourist zurückzugreifen und die Maschine durch breitere Lenker, grobstollige Reifen oder einen hochgezogenen Auspuff dem neuen Einsatzzweck anzupassen. Wenn die Maschine in zeitgenössischen Programmheften auch nur als „KTM 125“ aufgeführt ist, so handelt es sich dabei doch um die speziell vorbereitete Version der Grand Tourist.

Und noch eine andere interessante Ausführung der Grand Tourist gab es: der österreichische Automobilclub ÖAMTC schraubte an die 6,1 PS starke Maschine einen mit Werkzeug und Ersatzteilen vollgepackten Transportseitenwagen und setzte 28 dieser KTM Grand Tourist-Gespanne auf oberösterreichischen Straßen als Pannenhilfsfahrzeug ein. Wegen der auffallend gelben Farbe der KTM Gespanne wurden die Pannenhelfer von den gestrandeten Kraftfahrern schon bald als „Gelbe Engel“ bezeichnet.
10422_OEAMTC_bikes_2320
Etwa 6000 Exemplare der Grand Tourist wurden gebaut, bevor die bewährte Maschine 1958 durch die stärkere Tourist Trophy mit Viergang-Getriebe abgelöst wurde.

Fotos: Leo Keller | www.ktmimages.com