Motorrad-Stabilitätskontrolle: MSC bei der Arbeit

Dank Systemen wie der von KTM und Bosch entwickelten Motorrad-Stabilitätskontrolle sind High-Performance-Motorräder heute sicherer als je zuvor. Nicholas Goddard hat es sich zum Ziel gesetzt, die Grenzen von ABS und Traktionskontrolle zu finden.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Seit der Erfindung des Motorrads versuchen Fahrer, die Grenzen der Zweiräder auszuloten. Gleichzeitig arbeiten Techniker emsig daran, einzelne Teile zu verbessern, um die Fahrer bei Laune zu halten. Es geht darum, immer neue Messlatten zu finden und diese stetig auf neue Höhen zu heben …

Zuerst waren die Motoren der einschränkende Faktor. Bis zur Präsentation der Brough Superior im Jahr 1925 leisteten die meisten Serienmotorräder weniger als 30 PS. Praktisch über Nacht bot die Brough eine Leistungssteigerung von unglaublichen 50%. Als die Motoren stärker wurden, mussten auch die Bremsen verbessert werden, gefolgt von den Reifen und einer leistungsfähigeren Federung. Und als die Motoren noch einmal an Leistung zulegten, wiederholte sich dieser Kreislauf. Seit der Einführung der ersten Motorräder mit ABS im Jahr 1998 kümmern sich Computer um die Fahrdynamik, während sie zuvor nur hinter den Kulissen für das Motormanagement zuständig waren.

2014 wurden die ersten High-Performance-Motorräder mit Inertial Measurement Units (IMU) ausgerüstet, was wiederum die Entwicklung und Umsetzung des Kurven-ABS ermöglichte. Dieses bahnbrechende System zur Erhöhung der Sicherheit auf zwei Rädern, welches in Zusammenarbeit mit Bosch entwickelt wurde und seitdem als Motorrad-Stabilitätskontrolle bekannt ist, feierte seine Premiere in der KTM 1190 ADVENTURE und der KTM 1190 ADVENTURE R.

Im Gegensatz zu fest zupackenden Bremsen oder einem Tier von einem Motor – beide manifestieren sich deutlich beim Drehen am Gasgriff oder beim Betätigen des Bremshebels – bemerkt der Fahrer bei gemäßigtem Tempo nichts vom Eingreifen der IMU hinter den Kulissen. Bei solchen Bedingungen werden die Sicherheitssysteme, die von der IMU Informationen beziehen, normalerweise nur bei einer Panikbremsung aktiv (sie schalten aber eventuell das Kurvenlicht ein, um das Kurveninnere auszuleuchten, wenn sich das Bike in Schräglage befindet). Andernfalls wird das Motorrad den Grenzen der Reifen (oder, im Fall von Wheelie- oder Stoppie-Kontrolle, den Grenzen der Physik) nie nahe genug kommen, um die Systeme zum Eingreifen zu zwingen.

Bei aggressiver Fahrt greifen die vielen Systeme des MSC – Kurven-ABS, Traktionskontrolle, Wheelie-Kontrolle, Schleppmomentregelung und, bei manchen Bikes, Kurvenlicht – häufiger, um Situationen, die einem den Spaß verderben könnten, zu vermeiden oder die entsprechenden Auswirkungen zu lindern. Im Zuge der 1000 km, die ich auf einer KTM 1290 SUPER DUKE GT zurücklegte, griff das MSC Dutzende Male ein. Es folgt eine Liste von Szenarios während des zügigen Fahrens im Alltag – frei von Panikreaktionen – bei denen man die Magie des MSC erfahren und spüren kann, wie das Bike augenblicklich auf die Echtzeit-Beschleunigungsdaten der IMU und die Messungen der Raddrehzahlsensoren reagiert.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Wheelie-Kontrolle
Zum ersten Mal spürte ich einen Eingriff des MSC, als ich auf einer offenen, welligen Passage einer Bergstraße fuhr. Als ich eine Gerade erreichte und stark beschleunigte, erwartete ich, dass das Vorderrad auf der ersten Kuppe den Boden verlassen würde. Ich behielt die Stellung des Gasdrehgriffs bei und das Vorderrad hob sich tatsächlich etwas vom Boden ab, kam aber gleich sanft wieder herunter. Bei der nächsten Kuppe wiederholte sich dieses Schauspiel. Beim ersten Mal ging das etwas an die Nerven. Als ich aber Vertrauen zum System aufgebaut hatte, konnte ich mich voll auf die Straße – anstatt auf den Gasdrehgriff – konzentrieren und so schnell wie möglich beschleunigen; so konnte ich die unglaubliche Performance der KTM 1290 SUPER DUKE GT voll genießen, ohne einen Überschlag fürchten zu müssen …

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Traktionskontrolle
Auf einem besonders kurvigen Teilstück hatte der Schatten der Bäume dafür gesorgt, dass einige Stellen nach einem mittäglichen Schauer noch feucht waren. Mit meiner KTM 1290 SUPER DUKE GT im ‚Street‘-Modus – welcher muntere 170 PS zur Verfügung stellt – kam ich in einer Kurve auf eine solche feuchte Stelle und beschleunigte zu aggressiv. Das Hinterrad driftete ein bisschen, aber binnen Bruchteils einer Sekunde hatte das MSC den Schlupf registriert und nahm sanft Leistung weg. Als ich das Bike aufrichtete und auf einem trockenen Stück Straße beschleunigte, verließ das Vorderrad wieder den Boden. Nur wenige Augenblicke nachdem die MSC den Schlupf am Hinterrad unterbunden hatte, erlaubte sie einen kleinen Wheelie, als ich beschleunigte, um mich der nächsten Kurve zu nähern. All das geschah während eines Wimpernschlags.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Panikbremsung
Beim schnellen Fahren auf der Straße müssen Fahrer konventioneller Motorräder ohne MSC nicht nur ständig das Haftungsniveau einschätzen, sondern sich auch fortwährend selbst kontrollieren, um einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu wahren, um im Falle einer Panikbremsung so hart bremsen zu können, wie es die Bedingungen erlauben. Je talentierter und erfahrener ein Fahrer ist, desto kürzer kann dieser Sicherheitsabstand ausfallen.

Auf einem mit MSC ausgerüsteten Bike sieht die Sache anders aus. Bei einer Panikbremsung ist das MSC in der Lage, Informationen zur Schräglage an das ABS-Modul zu übermitteln, was dem fortschrittlichen ABS-Modul ermöglicht, bei Bedarf die Bremskraft zwischen Vorder- und Hinterrad aufzuteilen. Dank dieser Unterstützung kann der Fahrer den gesamten verfügbaren Grip für den Bremsvorgang nutzen – sogar in einer Kurve. Das reduziert den mentalen Aufwand des Fahrers – und damit den Bremsweg – enorm. Das Ergebnis sind erhöhte Sicherheit, höhere Geschwindigkeit und das Selbstvertrauen, das ein solches System mit sich bringt.

Beim normalen Bremsen – selbst wenn nur die vordere Bremse betätigt wird – legt das Bremssystem (sofern es mit einem 9.1ME-System ausgerüstet ist) die Bremsbeläge hinten leicht an, um Hinterradstempeln schneller registrieren zu können.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Auf nasser Strecke
Unglücklicherweise, aber dann doch zum Glück, konnte ich die KTM 1290 SUPER DUKE GT auch bei strömendem Regen fahren. Ein Motorrad im Nassen zu bewegen, ist immer schwierig. Sanftes Gasgeben verhindert vielleicht das Wegrutschen des Hinterrades, gleichzeitig denkt man aber immer daran, wie stark man beschleunigen oder bremsen kann, ohne in Teufels Küche zu kommen.

Auf einer nassen Straße in der Stadt verlängern Kanaldeckel, unebene Straßenbeläge und glitschige Bodenmarkierungen vielleicht den Bremsweg. Anstatt den Druck am Bremshebel während einer Panikbremsung kontinuierlich anpassen zu müssen, kann sich der Fahrer eines Bikes mit IMU darauf verlassen, dass das System zuverlässig ermittelt, wie viel Bremsleistung die Kontaktfläche zwischen Reifen und jeweiligem Untergrund verträgt.

Sollte der am Hebel verabreichte Bremsdruck die an der Kontaktfläche verfügbare Haftung überschreiten, reguliert das MSC die Bremsleistung so, dass sie der Anforderung des Fahrers so weit wie möglich entspricht, ohne die Räder blockieren zu lassen – so macht es immer das Beste aus der verfügbaren Haftung, selbst wenn sich diese von einem Moment zum anderen ändert.

Beim Beschleunigen geht es ähnlich zu, in diesem Fall reguliert aber die Traktionskontrolle die Motorleistung, um Schlupf zu unterbinden. Wenn dein Bike in der Lage ist, das Maximum aus der verfügbaren Haftung herauszuholen, fühlen sich nasse Straßen plötzlich wesentlich griffiger an.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Bremsen in Schräglage
Obwohl ich den KTM-Technikern voll vertraue, hielt ich es für keine gute Idee, die legendären Kurven-ABS-Fähigkeiten des MSC auf öffentlichen Straßen zu testen. Glücklicherweise bot sich bei einem Besuch des Bosch-Testzentrums in Boxberg eine Gelegenheit, dies in einer kontrollierten Umgebung zu tun.

Mir bot sich die Möglichkeit, ein Bike mit MSC so schnell, wie ich es wagte, um eine nasse Kreisbahn zu bewegen, und dann so hart zu bremsen, wie ich konnte. Meine Erwartung war, dass das System auf magische Art und Weise Grip finden würde, wo ich keinen vermutete. Als ich aber am Hebel zog, stellte sich kein überraschend starker Bremseffekt ein. Stattdessen legte das ABS die Bremsen nur leicht an und verzögerte das Motorrad zuerst sanft – in voller Schräglage war einfach nicht genug zusätzlicher Grip vorhanden. Als ich langsamer wurde und die Querbeschleunigung abnahm, bremste das System stärker. Als ich das Bike aufrichtete, erlaubte mir die MSC, so stark zu bremsen, dass das Hinterrad etwas Bodenkontakt verlor. So sehr ich mich aber auch bemühte, ich schaffte es nicht, das Vorderrad zum Schlittern zu bringen, selbst in voller Schräglage. Unglaublich.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Schlussgedanken
Wenn du den Fähigkeiten des MSC erstmal vertraust, wird sich dein Fahrstil ändern. Anstatt sich ständig darüber Gedanken zu machen, wie viel Grip verfügbar ist und wie du mit einer eventuellen Panikbremsung umgehen sollst, kontrollierst du die Position des Bikes auf der Straße, suchst dir eine vernünftige Linie mit relativ guter Haftung und fährst.

Obwohl ich die Reifen während meiner langen Reise einige Male an ihre Grenzen brachte, wachte das System immer wie ein Schutzengel über mir – immer bereit, einzugreifen und mir bei unvorhergesehenen Änderungen der Bedingungen oder einem überraschend auftauchenden Hindernis aus der Patsche zu helfen.

Mit der Gewissheit, dass dir dieses Sicherheitsnetz zur Seite stehen wird, wenn du die Grenzen überschreitest, kannst du dich diesen Grenzen weiter annähern. Gleichzeitig befreit es deinen Geist, sodass du dich stärker auf die Straße vor dir konzentrieren kannst.

Innere Ruhe ist ein weiterer positiver Nebeneffekt. Selbst wenn du im Regen mit einem Sozius unterwegs bist, kannst du hart bremsen, ohne die Kontrolle zu verlieren, du kannst praktisch niemals zu sachte bremsen und in Situationen kommen, die zu vermeiden gewesen wären. Mit dieser Technologie am Markt wird es immer schwieriger, ein High-Performance-Motorrad zu rechtfertigen, welches nicht damit ausgerüstet ist.

KTM 1290 SUPER DUKE GT MY2018 © R. Schedl

Fotos: R.Schedl/KTM