Nicola Dutto: „Immer nach vorne blicken“

Er wird nie aufhören, Neues auszuprobieren. Nach einem fürchterlichen Unfall sitzt Nicola Dutto im Rollstuhl. Trotzdem wird er nicht müde, seine Ziele zu verfolgen. Der nächsten Herausforderung wird er sich am 7. Januar 2019 stellen. An diesem Tag wird er bei der Rallye Dakar an den Start gehen.

© Francesca Gasperi

Bestimmte Tage brennen sich ins Gedächtnis ein: wundervolle Momente wie Hochzeitstage, die Geburt eines Kindes oder die erste Ausfahrt mit einem neuen Motorrad. Unser Gehirn legt den Tag ab, sodass wir uns bestimmte Erinnerungen ins Gedächtnis rufen können, wenn sich diese jähren. Das trifft leider auch auf dunkle Momente zu. Nicola Dutto (48) weiß darüber nur zu gut Bescheid. Der 20. März 2010 war ein solcher Tag: Er wird ihn zeit seines Lebens nicht vergessen. An jenem Tag meinte es das Schicksal nicht gut mit ihm und er musste am eigenen Leib erleben, was alle Rennfahrer fürchten. Bei der italienischen Baja in Pordenone kam er zu Sturz und ist seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt. „Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich vom vierten in den fünften Gang schaltete. Ich habe keine Erinnerung daran, was danach passierte. Als ich aufwachte, wollte ich nur wieder auf mein Motorrad steigen. Aber ich konnte mich nicht aufrichten.“ Schnell war der Italiener von Zuschauern umringt, die ihm helfen wollten. „Ich sagte ihnen sofort, dass sie mich nicht berühren sollten, denn einige von ihnen hatten sich daran gemacht, meinen Helm abzunehmen. Ich brauchte schnell medizinische Hilfe.“ Einige von Duttos Wirbeln hatten dem Aufprall nicht standgehalten und waren gebrochen. Die Diagnose war niederschmetternd und endgültig: Dem italienischen Baja-Spezialist war schnell klar, dass er gelähmt war. „Zu jenem Zeitpunkt war das aber nicht einmal meine größte Sorge. Der Arzt, der an den Unfallort gekommen war, stellte fest, dass ich lebensgefährlich verletzt war, da mein Herz nicht richtig arbeitete und mein Lungenvolumen auf etwa 20 Prozent reduziert worden war.“

Vierzehn Wochen im Nichts
Nach neun Stunden im Operationssaal verbrachte Nicola Dutto weitere fünf Tage auf der Intensivstation. Zwei Wochen später wurde er in eine Rehabilitations-Klinik nahe seiner Heimatstadt Beinette verlegt. „All die Knochen, die ich mir gebrochen hatte, mussten heilen, was bedeutete, dass ich vierzehn Wochen lang nichts hatte, worauf ich hinarbeiten konnte. Das Personal musste mich mit einem Bettlaken aus dem Bett heben, um mich in den elektrischen Rollstuhl zu setzen.“ Da er in dieser Zeit praktisch ans Bett gefesselt war, während er darauf wartete, dass seine Knochen heilten, hatte er jede Menge Zeit, über seine Situation nachzudenken. „Wenn du nichts anderes tun kannst als nachzudenken, ist es schwierig, ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen“, gibt er offen zu. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht geweint hätte. Als ich realisiert hatte, welche Konsequenzen die ganze Sache hatte, musste ich oft weinen. Es war, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Gerade bist du noch ein Rennen gefahren und im nächsten Augenblick bist du ans Bett gefesselt und kannst deine Beine nicht mehr bewegen.“ Für Nicola erschien alles hoffnungslos. Er hatte aber das Glück, Elena Foi an seiner Seite zu haben. Das Paar hatte sich sechs Monate vor Nicolas lebensveränderndem Unfall bei einer Party in der Scorpion Bay kennengelernt. „Zu diesem Zeitpunkt waren wir erst kurz zusammen und gleich nach seiner Operation sagte Nicola zu mir: ‚Du musst nicht bei mir bleiben‘. Ich wollte natürlich nichts mehr, als für ihn da zu sein, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen würde.“ Elena lebte in Brescia, das fast drei Stunden von Turin entfernt ist, wo Nicolas Rehabilitations-Klinik lag. Sie besuchte ihn dort, so oft es ging. „Unsere Wohnorte sind dreihundert Kilometer voneinander entfernt, was natürlich ein Problem war, weil ich arbeiten und zwei Töchter großziehen musste. Am Ende verlor ich meinen Job, aber meine Eltern haben uns großartig unterstützt. Es war eine schwierige Zeit, aber Nicola erholte sich schnell und konnte nach neun Monaten nach Hause. Danach zogen meine Töchter und ich bei Nicola ein.“

© Francesca Gasperi

Der einzige Italiener
Vor seinem Unfall war Nicola Dutto Profi-Rennfahrer gewesen. Er hatte erst mit 19 mit dem Rennfahren begonnen, das konnte Dutto aber nicht daran hindern, in relativ kurzer Zeit eine beeindruckende Karriere hinzulegen. Nach einer durchschnittlich erfolgreichen Zeit als Enduro-Fahrer, begann der Italiener, sich auf Baja-Rennen zu konzentrieren. Diese Querfeldein-Rennen mit beschilderten Routen schienen ihm besonders zu liegen. „Ein Freund von mir machte mich auf diese neue Art des Rennsports aufmerksam. In Spanien erfreute er sich bereits großer Beliebtheit und ich war sofort Feuer und Flamme. Schließlich zog ich für sechs Jahre nach Spanien, um mich voll auf den Baja-Sport zu konzentrieren.“ Regelmäßig maß sich Dutto mit Dakar-Größen wie Marc Coma, Isidre Esteve Pujol und Nani Roma. Als der einzige Italiener in einem vor Spaniern wimmelnden Starterfeld war er damals so etwas wie ein bunter Vogel. In Italien gab es damals nur schnelle Enduro-Rennen, aber nichts, das einer ‚echten‘ Baja-Rally nahekam. Dutto konnte sich im Sport schnell einen Namen machen und gewann in den Jahren 2008 und 2009 die Baja-Europameisterschaft.

Duttos Lieblingssport wurde auf der mexikanischen Baja California-Halbinsel ins Leben gerufen und er hatte geplant, 2010 am dort ausgetragenen, legendären Baja 1000-Rennen teilzunehmen. Leider wurde daraus in diesem Jahr nichts. Ob ihr es glaubt oder nicht, trotz seiner Verletzungen und der langen Zeit der Rehabilitation, erschien Duttos Name im folgenden Jahr wieder auf der Starterliste, dieses Mal aber als Buggy-Fahrer. „Mein Unfall hatte alle Chancen, jemals wieder als Motorrad-Fahrer an einer Baja-Rally teilzunehmen, zunichtegemacht. Die Reha gab mir aber Zeit, über meine Optionen nachzudenken. Am Ende nahm ich zusammen mit Elena in der Buggy-Klasse an der Baja 1000 teil.“ Das Abenteuer des italienischen Paares endete damit, dass ihr Buggy nach einem Schaden am Getrieberiemen im Sand stecken blieb. „Die Sache wurde dadurch erschwert, dass wir den Riemen nicht an Ort und Stelle wechseln konnten. Er war hinter meinem Sitz angebracht, sodass wir ihn nicht erreichen konnten. Im Flussbett feststeckend, warteten wir die ganze Nacht auf Hilfe. Mir war klar, dass es so nicht gehen würde. Vier Räder bedeuten Schwierigkeiten. Ich musste meinen Hintern also wieder auf ein Motorrad bekommen.“

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Spanische Connections
Der dreimalige nationale AMA-Motocross-Champion Doug Henry inspirierte Dutto dazu, es ihm gleichzutun. Nachdem der Italiener den Überrollkäfig, den Henry an seinem Bike benutzt, gesehen hatte, begann er, an seiner eigenen Version zu arbeiten. „Der Motorrad-Rennsport ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, obwohl es nach meinem Unfall so ausgesehen hatte, als ob ich nie wieder ein Motorrad würde bewegen können. Ich hatte auch darüber nachgedacht, als Organisator weiterzumachen, weil ich auf jeden Fall weiterhin ein Teil dieser Welt sein wollte. Aber selbst wieder zu fahren? Das erschien mir am Anfang unmöglich.“ Nachdem er Doug Henry gesehen hatte, änderte sich für den Italiener alles und er saß schnell wieder auf seinem Motorrad. Die Erinnerung an jenen Tag zaubert ein Lächeln in Duttos Gesicht. „Ich kam mir wie ein Idiot vor, als ich wieder auf dem Bike saß. Außerdem hatte ich große Angst. Wir hatten eine Art Stützräder am Bike angebracht und zuerst erblasste ich beim Gedanken daran, es tatsächlich zu fahren. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Aber nach ein paar hundert Metern hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden. Mir wurde klar, dass ich tatsächlich wieder fahren würde.“ Nach diesen vorsichtigen ersten Schritten schrieb sich Dutto bei einem Baja-Rennen ein. Lediglich vier Monate später kam Dutto bei der Baja Aragon als 24. ins Ziel. „Ich wollte eigentlich nur ein bisschen Spaß mit Freunden haben, durch die Berge cruisen. Am Ende aber konnte ich es nicht leugnen, dass ich wieder Rennen fahren wollte. Ich nahm Kontakt mit einigen meiner Freunde in Spanien auf.“

Schon bald, nachdem der Motorrad-Rennsport wieder ein Thema für Dutto geworden war, kam das Gespräch auch auf die Rallye Dakar. „Vor meinem Unfall hatte ich mich vor allem auf Baja-Rallys konzentriert. Seitdem aber sehe ich überall Möglichkeiten. Wie die Dakar zum Beispiel. Für mich hatte sie nie die gleiche Faszination, die sie für andere hat. Die Teilnahme an der Dakar ist für mich wie bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Vor drei Jahren sah ich mir das Rennen im Fernsehen an und dachte: ‚Warum nicht?‘“

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Konkurrenten werden zu Ghost Ridern
Trotz seines Handicaps muss sich auch Nicola Dutto dafür qualifizieren, am härtesten Rennen der Welt teilnehmen zu dürfen. Das hat er durch seine Teilnahme an der OiLibya Rally im letzten Jahr erreicht. Jeder Rennfahrer braucht ein Team, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, ein Rennen zu beenden. Für den Italiener ist es umso wichtiger, von kompetenten Leuten unterstützt zu werden. Während der Rally-Raid-Veranstaltungen wird der KTM-Fahrer deshalb von sogenannten Ghost Ridern begleitet. Diese Ghost Rider sind Pablo Toral, Victor Rivera und Julian Villarrubia. „Wir treten bei der Rallye Dakar als Vier-Personen-Team an. Ein Fahrer fährt voraus, weil ich nicht einfach anhalten kann, um mich umzusehen und herauszufinden, in welche Richtung ich fahren muss. Er zeigt mir zum Beispiel den richtigen Weg eine Düne hinauf. Er ist auch derjenige, der mich ‚auffängt‘, wenn ich zum Nachtanken anhalten muss oder wenn ich das Ziel erreiche. Die anderen beiden Fahrer folgen mir. Sollte etwas schiefgehen, können sie mir dann helfen. Da ich praktisch an mein Motorrad gefesselt bin, ist es wichtig, die beiden hinter mir zu haben. Sollte ich umfallen, richten sie nicht nur das Bike auf, sondern auch den Überrollkäfig und mich selbst. Für mich ist es noch wichtiger als für ‚normale‘ Fahrer, ein verlässliches Team zu haben; es muss für mich wie eine Familie funktionieren. Ich habe das Glück, drei unglaublich gute Ghost Rider zu haben; Jungs, die ich schon seit Ewigkeiten kenne. Bei den Baja-Rennen in Spanien waren wir Konkurrenten!“

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Seit Dutto von der Hüfte abwärts gelähmt ist, braucht er mehr als nur diese drei Ghost Rider; auch das Bike selbst ist etwas Besonderes. Seine KTM 450 EXC-F wurde umfangreich modifiziert, um den Bedürfnissen des Italieners zu entsprechen. Dutto verwendet einen elektronischen Ganghebel sowie eine Rekluse-Fliehkraftkupplung. Auch der Bremszylinder für die Hinterradbremse wurde auf den Lenker verlegt. Seine Beine sind mit dem Bike verbunden und werden von einem Rahmen geschützt. Andere wichtige Teile an Duttos KTM sind die Vicair-Sitzbank sowie eine Rückenlehne mit Dreipunkt-Gurt. „Wenn man mein aktuelles Dakar-Bike mit dem ersten Bike vergleicht, das ich gebaut habe, um wieder mit dem Fahren zu beginnen, hat sich vieles verändert. Der Überrollkäfig am alten Bike war groß und klobig, während er am neuen sehr minimalistisch ausfällt. Er ermöglicht uns, viel Gewicht einzusparen, was mir dabei hilft, das Motorrad zu kontrollieren. Außerdem ist erwähnenswert, dass der Motor der KTM-Enduro viel besser ist. Sein Charakter und das Sechsganggetriebe sind perfekt für mich.“ Natürlich musste Nicola seinen Fahrstil den neuen Gegebenheiten anpassen. Laut ihm fühlt es sich so an wie normales Fahren, ohne die Beine zu verwenden. „Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich heute ein Motorrad fahren muss. Es ist eine recht komplexe Sache und es hat mich viel Zeit gekostet, herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Die Federung für mich abzustimmen war zum Beispiel interessant, weil ich nicht mehr aufstehen kann, um Schläge abzufangen.“

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Das beste Beispiel
Seine Lähmung hat Nicola Dutto durch dunkle und schwierige Zeiten geführt, sein Blick war aber immer auf das Licht am Horizont gerichtet. Er ist seine Rehabilitation angegangen, wie es nur ein Profi-Athlet schafft. „Ich trainierte stundenlang und das Personal in der Klinik meinte, ich wäre verrückt. Anstatt, wie verschrieben, nur eine Stunde Physiotherapie zu machen, machte ich einfach weiter. Wenn ich konnte, zwei oder sogar drei Stunden lang. Das hat den Heilprozess stark beschleunigt. Ich fühlte mich immer noch wie ein Profi-Athlet, obwohl ich meine Beine nicht mehr verwenden konnte. Meine Vorbereitung auf die Dakar sieht wieder genauso aus.“

Seine Teilnahme an der Rallye Dakar ist der beste Beweis für Duttos Überzeugung, sein Leben zu genießen besonders, da der Motorsport wieder einen Platz in seinem Leben hat. „Ich habe großes Glück – nicht nur, weil ich noch am Leben bin, sondern auch, weil es noch so viele Projekte gibt, die ich in meinem Leben angehen kann. Mein guter Freund Kurt Caselli verlor 2013 sein Leben. Das war ein schwerer Schlag für mich, aber gleichzeitig lehrte es mich, das Beste aus meinem Leben zu machen. Nach dem Unfall hatte ich zwei Optionen. Ich hätte an jene Zeit zurückdenken können, als ich noch gehen konnte, aber das hätte mich nicht weitergebracht. Ich entschied mich für die zweite Option, denn wenn ich auf einem Motorrad sitze oder Ski fahre, eine meiner anderen Leidenschaften, blicke ich immer nach vorne. Und so lebe ich auch mein Leben als Querschnittsgelähmter.“

© Francesca Gasperi

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Fotos: Francesca Gasperi