Schräger Typ

Eisspeedway ist im Grunde ein Paradoxon: Auf dem glattesten aller Geläufe werden die extremsten Schräglagen gefahren. Da scharrt der Lenker auf dem Boden. Der Österreicher Franz Zorn zählt seit vielen Jahren zur Weltspitze, in seiner Maschine stecken einige technische Schmankerl von KTM.

Franz Zorn (AUT) Inzell (GER) 2017

Ja, wo bleibt er denn? Es ist halb zwölf Uhr vormittags, im Fahrerlager von Inzell herrscht emsiges Treiben, alle werkeln an ihren Maschinen, auch die Kononovs, Koltakovs und Khomitsevichs, die Russen also, die diesen Sport fast nach Belieben dominieren. Nur jener Mann, der als Einziger der russischen Übermacht ab und an trotzen kann, der fehlt: Franz Zorn. Es ist der zweite Tag der Eisspeedway-Team-WM, tags zuvor führte Zorn das österreichische Team auf Platz 2. Diesen zweiten Platz gilt es nun, am zweiten Renntag, zu verteidigen. Warten auf Franz Zorn. Er wohnt in Saalfelden, nur 45 Autominuten entfernt, und war über Nacht zu Hause. In der heimischen Werkstatt lässt es sich besser am Motorrad tüfteln als im engen Gerätekeller der Inzeller Eishalle, der als Fahrerlager dient, in dem die besten Eisspeedway-Cracks der Welt dicht aufeinander sitzen und wo kaum Platz bleibt, um einen Klappstuhl für den Piloten aufzustellen.

Es ist kurz vor zwölf, als Zorns schwarzer Sprinter in den Hof rollt. Endlich. Zorn und seine Mechaniker holen die zwei Bikes heraus und schieben sie über die dicken Gummimatten, die überall im Fahrerlager ausgelegt sind, damit die Angelhaken-scharfen Spikes keinen Schaden nehmen. Erst als beide Maschinen aufgebockt da stehen und die Werkzeugkisten ihren Platz gefunden haben, findet Zorn Zeit für unsere Fragen. Halt, Moment, noch schnell das Autogramm für den Fan. So, jetzt ist er bereit.

Franz („Franky“) Zorn, 2000 Vizeweltmeister, 2008 Europameister und 2017 fährt er seine beste Saison seit langem. Bei jedem Grand Prix schaffte er an einem der beiden Renntage den Einzug ins Finale, im GP-Gesamtklassement ist er derzeit Fünfter, noch vor dem Russen Daniil Ivanov. Ach, diese Russen. Nette Kerle, aber zumeist unerreichbar. Vor einigen Jahren brachte Zorn die Problematik mit den Russen auf den Punkt, als er sagte: „Willst Du als Österreicher Eisspeedway-Weltmeister werden, ist das, wie wenn du als Jamaikaner im Skispringen zehn Schlierenzauers besiegen musst.“

Mit 46 Jahren ist Zorn im besten Eisspeedway-Alter. Nein, damit ist er nicht der Älteste im Inzeller Fahrerlager. Nebenan steht Stefan Svensson, der ist rüstige 58 und fährt für Schweden. Und Svenssons Landsmann Per-Olof Serenius, zweifacher Weltmeister, bestritt vor wenigen Wochen sein Abschiedsrennen – mit 68. Eisspeedway ist ein Routinier-Sport“, sagt Franz Zorn, dem man seine 46 Jahre freilich nicht ansieht: Lange Haare, darüber eine trendige Red-Bull-Mütze. Inmitten der rustikal-hemdsärmligen Eisspeedway-Cracks wirkt Zorn wie das Model aus dem Livestyle-Magazin. Dazu passt, dass keiner im Fahrerlager einen so professionellen Auftritt hinlegt. Die Box stets aufgeräumt, die Mechaniker in einheitlicher Teamkleidung und an den Maschinen keine Lackschäden oder abgeschabten Kotflügel vom letzten Sturz. Alles picobello. Stehen die zwei Zorn-Bikes nebeneinander, kann man das alte Spiel spielen: Erkennen Sie den Unterschied? Knifflig, in der Tat. Dutzende von Sponsoraufklebern, doch alle sind bis auf den Millimeter identisch angebracht. Erst nach minutenlangem Hinschauen erkennt man, dass bei einer der zwei Maschinen drei Sterne auf der Heckverkleidung fehlen. Skandalös! Zorn schmunzelt. „Ja, die sind mir ausgegangen, leider.“ Er sei halt eine typische Jungfrau, meint Zorn. Beim Sternzeichen Jungfrau müsse immer alles passen.

Zorns durchgestylter Auftritt macht ihn für Sponsoren interessant. Red Bull unterstützt ihn und es kam schon vor, dass Zorn im Privatjet von Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz zu einem Rennen fliegen durfte. Bis zu 90.000 Euro koste ihn eine Saison, sagt Zorn, noch käme er null-zu-null raus, müsse also nichts aus eigener Kasse zuschießen. Doch der Sport sei teurer geworden, vor allem, seit das Reglement die Verwendung von Titan-Teilen erlaube. Dennoch macht Zorn bei der Technik keine Kompromisse. Zusammen mit einem Grazer Ingenieur, der auch für KTM arbeitet, entwickelte er einen eigenen Zylinderkopf. Sowieso stecken in seiner Maschine jede Menge Bauteile von KTM. Von der Lenkerhalterung über diverse Verschraubungen bis hin zu allen wichtigen Achsen: Hinterradachse, Vorderradachse, Schwingenachse. „Beim Eisspeedway wirken enorme Kräfte“, erklärt Zorn. „Da sind viele Teile von KTM perfekt geeignet.“ Dass Zorn puncto Technik eigene Wege geht, weiß ein jeder im Fahrerlager. Er fährt ein kleineres Hinterradritzel als seine Gegner. Deshalb hat er Vorteile am Start. Und dem Start kommt in einem Sport, in dem ein Rennen nur über vier Runden geht, entscheidende Bedeutung zu.

Eisspeedway ist gleichermaßen eine extreme wie exotische Sportart. Ist das Eis zu Beginn eines Renntags glatt und griffig und nicht von 15 Zentimeter tiefen Rillen durchzogen, die später das Fahren zu einem Rodeo-Ritt machen, werden Schräglagen von über 70  Grad erreicht. Um das ein oder andere zusätzliche Grad herauszuholen, werden die Lenker nach außen, also nach rechts versetzt. Der Grip, den die 28 Millimeter langen Spikes ermöglichen, ist sagenhaft. Doch diese Spikes sind Segen und Fluch zugleich. Segen, so lange sie halten. Fluch, sobald der Grip abreißt und ein Sturz unvermeidlich ist. Dann halten sich die Piloten mit aller Kraft am Lenker fest, denn nichts ist schlimmer, als von der eigenen Maschine getroffen und von den Spikes aufgespießt zu werden. Aus diesem Grund haben die Piloten am Handgelenk eine Kordel, die im Falle eines Sturzes als Zündunterbrecher dient, den sogenannten Totmacher. Trotzdem dreht sich das Rad weiter und kann – einer Kreissäge gleich – übelste Verletzungen verursachen. Da helfen die Kevlar-verstärkten Kombis wenig. Manche Piloten versuchen, sich mit Kettenhemden zu schützen. Auch Zorn wurde schon diverse Male aufgespießt. Seine schmerzhafteste Verletzung aber war das gebrochene Sitzbein, vor drei Jahren, beim Grand Prix in Moskau. Speedway-Piloten sind hart im Nehmen. Auch in puncto Kälte. Bei den russischen Grands Prix in Togliatti oder Schadrinsk hat es nicht selten minus 25 Grad. Dann umwickeln Zorn und seine Kollegen ihre Finger mit Isolierband und über den Zylinder binden sie einen Lappen, damit der eisige Fahrtwind den Motor nicht zu sehr abkühlt.

Es ist kurz nach 17 Uhr, als in Inzell die Entscheidung fällt: Die Russen holen einmal mehr den Team-WM-Titel, dahinter fahren Zorn und Charly Ebner Junior das österreichische Team auf Platz 2. Best of the rest also, das Optimum. Franz Zorn ist happy. Jetzt freut er sich auf das Grand-Prix-Finale im niederländischen Heerenveen Anfang April, dann war´s das mit der Saison 2017. Im Sommer wird er, wie jedes Jahr, mit seiner KTM 350 SX-F trainieren, am liebsten in der X-Bowl Arena in Stegenwald. Und 2018? Zorn überlegt kurz, ob er´s verraten soll, dann sagt er: „Vielleicht fahre ich die russische Liga.“ Doch dazu bedürfe es noch etlicher Gespräche mit den Sponsoren, denn die müssen selbstverständlich mitziehen.

Franz Zorn, der nimmermüde Eisspeedway-Vorzeigeathlet. Wie lange er den Sport noch ausüben möchte? „Na ja“, sagt Zorn, „vielleicht ist mit 50 eine Grenze erreicht.“ Sagt wohlgemerkt einer, der mit 46 schneller und erfolgreicher fährt, als jemals zuvor. Das Karriereende könnte sich also durchaus noch hinziehen.

Team Austria Inzell (GER) 2017

Fotos: Steve Bauerschmidt