Test mit der Dakar-erprobten KTM 450 RALLY

Im November 2016 öffnete das Red Bull KTM Rally Factory Racing-Team seine Pforten und gab einigen ausgesuchten Journalisten die seltene Gelegenheit, eine KTM 450 RALLY zu testen …

Der Schauplatz: Ein kleiner Gewerbepark versteckt in den Nebenstraßen von Igualada, Spanien, etwa eine Autostunde westlich von Barcelona und in der Nähe des Montserrat-Gebirges. Hinter einer unscheinbaren Front verstecken sich hier die außergewöhnlichsten Motorräder der Welt. Noch immer vom vorangegangenen Testtag mit Red Bull KTM-Werksfahrern Toby Price, Sam Sunderland, Matthias Walkner und Laia Sanz zerkratzt und verdreckt, stehen die KTM 450 RALLY-Maschinen auf Podesten.

Die 450 RALLY, die nur für einen Zweck – nämlich den Sieg beim härtesten Motorradrennen der Welt, der Rallye Dakar – entwickelt wurde, ist eines der beeindruckendsten Motorräder der Welt. Selbst im direkten Vergleich mit Werks-Motocrossern oder -Enduros oder einem MotoGP-Bike muss sich die Rally nicht verstecken.

KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Anders als so manche Motorräder anderer Hersteller bei der Dakar ist die KTM 450 RALLY ein Vollblut-Racer. Sie wurde von Grund auf dazu entwickelt, die Rallye Dakar zu gewinnen. Sie ist wie keine andere Rennmaschine in der Lage, mit jedem Terrain fertigzuwerden. Man könnte sogar sagen, dass die KTM 450 RALLY aufgrund ihres unglaublichen Repertoires mehr drauf hat als ein MotoGP– oder MXGP-Bike. Ihr wird so viel mehr abverlangt, als durch den Schlamm zu pflügen, über Baumstämme zu springen oder Runden auf einer befestigten Rennstrecke zu drehen. Ein Rally-Bike muss ein Allrounder sein und dazu noch hart wie Stahl.

Und da die Dakar solch hohe Ansprüche stellt, haben die KTM-Techniker ein mechanisch unkompliziertes und robustes Motorrad geschaffen. Wenn das Bike nicht mit den harten Bedingungen fertigwerden kann, nützt das weder dem Werk noch dem Team oder dem Fahrer. Die Dakar ist bei jeder Geschwindigkeit eine riesige Herausforderung für Mensch und Maschine, ein unfassbar anspruchsvoller Test der Technik bei Renngeschwindigkeiten. Bei der 2017er Ausgabe der Dakar war dieser Test 8.188 Kilometer lang sein, 4.000 davon Sonderprüfungs-Kilometer. Dank der Regeländerungen in den letzten Jahren müssen die Motoren jetzt genauso haltbar wie schnell sein, damit sie auch sicher die Ziellinie der 12. Prüfung in Buenos Aires erreichen. Von solchen Statistiken können MX- oder MotoGP-Maschinen nur träumen.

Jordi Viladoms (ESP) & internationale Medien KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Jordi Viladoms (ESP) & internationale Medien KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Seit ihrer Entwicklung im Jahr 2014 hat sich beim Fahrwerk der KTM 450 RALLY nicht viel verändert. Obwohl WP Suspension in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat, entsprechen die 52-mm-Cone-Valve-Gabel und das Trax-Federbein weitgehend Teilen, die man auch auf seinem Bike anbringen könnte. Klar lässt sich die Federung auf die Bedürfnisse verschiedener Fahrer einstellen und ist in Anbetracht des höheren Gewichts des Rally-Bikes härter. Abgesehen davon ist dieses Kit von WP Suspension nicht besonders speziell. Das Terrain bei der Rallye Dakar wechselt zwischen harten, kompakten Sektionen, felsiger Wüste und extrem feinem, weichem Sand. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, schnell Anpassungen vornehmen zu können, um den Enduro-Fahrern nicht nur das Leben zu erleichtern, sondern auch den Sieg – so ist es unübersehbar, wie Erkenntnisse aus Rennaktivitäten in Serienmotorräder umgesetzt werden.

In einem Sport, in dem sich die Abstände zwischen den einzelnen Fahrern im Sekundenbereich bewegen, wird es immer wichtiger, die Federung mittels Einstellrädern anpassen zu können. Der Fahrer kann so unterwegs oder bei einem Tankstopp den Charakter des vollgetankten Bikes verändern (die Gewichtsverteilung verändert sich dramatisch, wenn die 33 Liter Kraftstoff auf einer Strecke von ca. 250 km verbrannt werden). Obwohl sie auf vielerlei Arten atemberaubend ist, fühlt sich das KTM 450 RALLY-Werksmotorrad recht normal an, wenn man mal auf ihm platzgenommen hat. Ausreichend Kraftstoff, um das Ziel zu erreichen, und die Navigationsausrüstung, um es zu finden, sind beim Rallyfahren unerlässlich und daher wichtige Elemente auf einem Rally-Motorrad. Bis auf den großen Kraftstofftank und den Navigationsturm sieht das Bike einem normalen Geländemotorrad ziemlich ähnlich – mehr sogar, als man erwarten würde.

Stabilität ist ein wichtiger Bestandteil der Offroad-Fähigkeiten der 450 RALLY. Sie ist eine Bestie und muss natürlich brachial andrücken, aber sie muss auch einfach und intuitiv zu fahren sein statt dem Fahrer Angst einzujagen. Dazu Antoine Meo: „Beim ersten Mal ist es etwas komisch, aber du hast den Dreh schnell raus. Das Bike ist ein echtes Tier, macht es dir aber leicht, ihm zu vertrauen. Es ist ausgesprochen stabil. Sicher ist es ziemlich groß, aber wenn du an die Grenzen gehst, ist es auch super-aggressiv!“

Internationale Medien KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Internationale Medien KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Bei unserem Test fuhren wir hauptsächlich auf trockenen, sandigen und steinigen Wegen – man könnte sagen typisch spanisch. Obwohl die Teilnehmer schier unbezahlbare Werksmotorräder fuhren, war – entgegen den Erwartungen – niemand wirklich nervös. Tatsächlich handelt es sich um ein Motorrad, welches Vertrauen mit überraschender Wendigkeit belohnt und mehr Spaß macht, als man es erwarten würde. Wenn man sich einige der offiziellen Pressefotos vor der Rallye Dakar ansieht, auf denen Toby Price auf seinem Bike einige MX-Moves hinlegt, sieht man gleich, was wir meinen.

Um mit den horrenden Geschwindigkeiten und dem gewaltigen Gewicht des vollen Kraftstofftanks fertigzuwerden, ist die 450 RALLY extrem spurstabil. Ihr Gitterrohrrahmen ähnelt eher dem der KTM ADVENTURE-Modelle als dem Zentralrohrrahmen der Enduro- und MX-Bikes von KTM, was ihn widerstandsfähiger und stabiler bei hohen Geschwindigkeiten macht.

Trotzdem ist er auch wendig. Unsere Testroute führte uns über mannigfaltige Wege, auf denen wir die Navigation mit Roadbooks lernten – keine einfache Aufgabe, wie sich schnell herausstellen sollte. Wenn sie auch sonst nichts vom Navigations-Training (Fehler beim Lesen!) gelernt haben mögen, so hatten die Journalisten wenigstens die Chance, ihre Fertigkeiten beim Kehrtmachen zu üben. Wieder zeigte sich, dass sich die KTM 450 RALLY beim Umkehren auf engem Raum nicht schwerfällig, sondern wie andere Geländemotorräder auch verhält: Einfach Fuß runter, Gas geben, das Ding herumwerfen und weiter geht‘s. Es scheint fast so, als wäre dieses Motorrad darauf programmiert, keine Zeit zu verschwenden.

Roadbook KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Roadbook KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Werksrennmaschinen sind für Normalsterbliche oft schwierig zu fahren. Die KTM-Werks-Motocrossmaschine von Tony Cairoli ist ein gutes Beispiel dafür. Sie ist so merkwürdig zu fahren, weil sie sich nur auf sehr spezielle Art und Weise einstellen lässt, sodass nur die Weltbesten damit umgehen können. Natürlich ist sie perfekt, wenn dein Name Tony ist und wenn du MXGP-Rennen gewinnen möchtest. Für Normalsterbliche ist sie aber eine Nummer zu hoch. Von der Rally-Werksmaschine kann man das nicht behaupten. Ehrlich gesagt waren wir überrascht, wie gut wir uns gleich vom ersten Moment an fühlten. Bevor ich den Hof des Rallyteams verließ, sprang ich beherzt über die Kante eines Gehwegs neben dem Gewerbegebiet. Sofort fühlte sie sich toll an, als ob mir die KTM 450 RALLY zuriefe: „Steig auf, man. Auf geht’s!“ Als wir im Gelände waren, wurde schnell klar, dass dieses Bike wesentlich benutzerfreundlicher ist, als alle gedacht hatten.

Ihre präzisen Kontrollelemente helfen dir unterwegs. Das reicht von ihrem Brembo-Bremssystem mit 300-mm-Bremsscheiben von MotoMaster vorne (240 mm hinten) bis zum Gasdrehgriff, der den 42-mm-Vergaser von Keihin mit Gemisch versorgt. Alles ist rasiermesserscharf und gibt extrem viel Rückmeldung. Und jede Menge Rückmeldung ist genau das, was du brauchst, wenn du mit 150 km/h durch eine steinige Wüste fährst. Beständigkeit, Präzision und Rückmeldung sind auch dann wichtig, wenn du dich in eine unwegsame Schlucht hinunterarbeitest oder ein überwachsenes Flussbett durchquerst.

Wenn du dich einer Reihe von Sprüngen oder einem Anstieg auf einen Hügel gegenübersiehst, brauchst du nur am Gasgriff zu drehen, die Gänge durchzuschalten und loszufahren. Das Bike ist für alles gerüstet. Solltest du dann um eine Kurve kommen und dich dein Weg eine schmale und steinige Rinne hinaufführen, ist auch das kein Problem: Knalle einfach den ersten Gang rein und kämpfe dich durch. Lange Abstufung? Welche lange Abstufung? Weder das noch der lange Radstand können ihr etwas anhaben – sie nimmt auch eine Rinne, die wie Trial-Gebiet aussieht, mit relativer Leichtigkeit.

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Natürlich verhält sie sich dabei nicht wie eine FREERIDE. Nach normalen Maßstäben gemessen ist und bleibt sie ein großes Motorrad und das bedeutet, dass du beim Überwinden großer und schwerer Hindernisse all dein Selbstvertrauen brauchst. Je schneller du die Barrieren aber bezwingst und je härter du andrückst, desto schneller und einfacher bekommst du einen Vorgeschmack darauf, wie großartig diese Bikes in den richtigen Händen sind.

Die handgefertigte Auspuffanlage von Akrapovič ist ein Kunstwerk für sich. Im Vergleich zu anderen Offroad-Auspuffanlagen ist es ein wuchtiges Teil. Es scheint fast so, als könnte man seinen ganzen Arm hineinstecken. Das Mehr an Power (und Lärm), das dieser 449,3-ccm-4-Ventil-SOHC-Motor von KTM produziert, unterscheidet ihn von den meisten anderen 450ern am Markt. Fast 70 PS und 52,5 Nm sind beeindruckende Zahlen, wobei die Höchstleistung bei einer hohen Drehzahl – etwa 7.500 U/min – ansteht. Das resultiert in einer gleichmäßigen Leistungsabgabe ohne Sprünge. In anderen Worten: Je mehr du am Gasgriff drehst, desto schneller wird sie, und das hält in allen Gangstufen an. Wenn du dich in den Gängen drei bis fünf bewegst, bremst, rutschst und aus den Kurven herausdriftest, bedeutet das gut nutzbare Power und süchtig machenden Spaß.

Die stehende Fahrposition ist aus der Perspektive des Fahrers wohl das Positivste an diesem Bike. Dank der Form des an den verschiedenen Bikes montierten Neken-Lenkers und der extrem breiten Raptor-Fußrasten fühlt sich die stehende Position vollkommen natürlich an, sodass du schon bald das Gefühl hast, auch du könntest – theoretisch jedenfalls – sechs oder sieben Stunden so fahren, genau wie die Profis.

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Beim Rallyfahren im Allgemeinen und der Rallye Dakar im Besonderen ist diese Art zu fahren extrem wichtig, wenn es um die Ermüdung des Fahrers geht. Die längste Etappe der 2017er Rallye Dakar hatte eine Länge von 977 Kilometern – jene des Vortages 892 km – wovon nur (nur!) 492 km Sonderprüfungen waren. Bei solchen Distanzen hilft es niemandem, wenn die Fahrer mit einem schwierig zu fahrenden Bike zu kämpfen haben.

Das fortwährende Engagement von KTM im Rallysport ist die Messlatte, an der sich die anderen Teams und Hersteller messen müssen. Mehrmals so abzuliefern und die Rallye Dakar fünfzehn Mal in Folge zu gewinnen, spricht Bände über die Hingabe und das Engagement der österreichischen Marke. Wenn du nach einigen ebenso spannenden wie famosen Stunden auf einem KTM 450 RALLY-Werksmotorrad wieder absteigen musst, wirst du dir wünschen, dass dieser Tag niemals endet. Sie hat ausladende Maße und wir alle sind froh, dass wir diese Bikes nicht vollgetankt fahren mussten (neugierig wären wir aber trotzdem gewesen). Trotzdem ist sie beim Fahren weniger einschüchternd, als man erwarten würde.

Mit so vielen Talenten und möglichen Einsatzbereichen könnte man sie mit Fug und Recht als das beste Allzweckmotorrad der Welt bezeichnen. An einem Tag könnte man auf ihr eine Wüste durchqueren und am nächsten Tag damit zum Supermarkt fahren. Macht sie das zum besten Adventure-Bike der Welt oder zum besten Geländemotorrad der Welt? Gut möglich, dass die KTM 450 RALLY sogar das beste Motorrad der Welt ist.

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Jonathan Pearson (GBR) KTM 450 RALLY Igualada (ESP) 2016

Fotos: KTM