Tickles Supercross-Tipps

Wir befragten den aufstrebenden Star des Red Bull KTM Factory Racing Teams in der AMA Supercross-Serie nach seinen Gedanken und seiner Meinung dazu, was man braucht, um mit den besten ‚Indoor‘-Fahrern mitzufahren und das Feld in einer der populärsten Motorrad-Rennsportmeisterschaften der Welt aufzumischen.

Broc Tickle (USA) San Diego (USA) 2018 © Simon Cudby

Die Supercross-Meisterschaft flößt einem zuerst gehörig Respekt ein: das Gefühl, an etwas Großem teilzuhaben, die Veranstaltungsorte (in Major League-Baseball- und NFL-Stadien), der ‚Prunk‘ und die schiere Anzahl an Zuschauern (im Durchschnitt etwa 50.000 am Samstagabend, und das bei jedem der siebzehn Läufe, die in einem Zeitraum von neunzehn Wochen an den verschiedensten Orten in den USA ausgetragen werden). Dennoch findet die Magie vor allem an die Rennstrecken selbst statt. Wenn man hautnah dabei ist, kann man kaum glauben, wie schnell da gefahren wird, wie hoch und weit die Sprünge gehen und wie sehr die Fahrer mit ihren 450ern den Gesetzen der Physik trotzen. Dazu kommt unglaublich intensive Rennaction – zwanzig Athleten, die auf dem Boden und in der Luft nur wenige Zentimeter trennen – und fertig ist ein brutaler, aber prächtiger Tanz des Wahnsinns.

Als regierende Champions ist Red Bull KTM Factory Racing einer der wichtigsten ‚Honigtöpfe‘ im AMA-Fahrerlager, wo die Fans sich versammeln, um einen Blick auf die robusten Bikes zu erhaschen und ihren Idolen – Menschen in optimaler körperlicher und mentaler Verfassung – zu huldigen.

Der 28-jährige Broc Tickle ist ein früherer 250 SX West Champion und fährt mit Teamkollege Marvin Musquin heuer seine erste Saison auf der KTM 450 SX-F. Er erzählt uns von den drei wichtigsten – und offensichtlichsten – Voraussetzungen beim Supercross: Technik, Fitness und Mut.

Broc Tickle (USA, #20) & Marvin Musquin (FRA, #25) KTM 450 SX-F 2018 © Simon Cudby

1. Lass es wahr werden
Supercross-Rennen lassen nur wenig Platz für Fehler. Die aufeinanderfolgenden Sprünge, die Landungen, die rhythmischen Sektionen, überhöhten ‚Switchbacks‘ und Whoops sind wie dafür gemacht, aus einem kleinen Fehler eine Katastrophe zu machen. Wie genau schaffen es die Fahrer, eine schnelle Runde hinzulegen, wenn ihre Bikes fast die halbe Zeit in der Luft sind? Oder einfacher gesagt: Woher wissen sie, wie viel Gas sie geben müssen, und wie schätzen sie die Distanzen beim Springen ab?

„Dafür bekommt man mit der Zeit ein Gefühl“, so Tickle. „Jemand, der noch nie Supercross gefahren ist, denkt vielleicht, dass du einen Triple schnell anfahren musst. Die Wahrheit ist, dass du das gar nicht machen musst; die meisten Hindernisse sind gar nicht so schwierig, besonders nicht auf einer 450er. Wir könnten alle Sprünge wahrscheinlich auch im ersten Gang nehmen. Mit der Zeit lernst du dazu, verdienst dir auf verschiedenen Bikes die Sporen – besonders, wenn du schon so lange dabei bist wie ich! Es ist wahrscheinlich nicht so eine gute Idee, Supercross zum ersten Mal mit einer 450er auszuprobieren!“

Broc Tickle (USA) KTM 450 SX-F Oakland (USA) 2018 © Simon Cudby

„Ich bin eigentlich gar nicht viel Supercross oder Arenacross gefahren, bevor ich Profi wurde, und somit war es für mich eine steile Lernkurve und ich musste alles in den ersten Jahren auf die harte Tour lernen. Heute fahren Kids mit 80-ccm-Bikes Supercross. Auf jeden Fall ist Timing alles. Man kann nichts überstürzen. Auf einer 450er musst du Schwung mitnehmen und natürlich reißen wir bei einem Hauptrennen die Strecke ordentlich auf. Dann ist es wichtig, dass du ein gutes Setup hast und die Sprünge sauber nimmst.“

„Ich glaube, ich habe bis jetzt erst 80 % gezeigt … und die ersten beiden Rennen waren mein bisher bester Start in eine Supercross-Saison. Es war großartig, mit diesem Team zusammenzuarbeiten.“

2. In der Lage zu sein, es wahr werden zu lassen
Dank Informationssystemen wie LitPro können Zuschauer bei Supercross-Events die Geschwindigkeiten sowie persönliche Daten der Fahrer, wie zum Beispiel deren Herzfrequenz, mitverfolgen. Hauptrennen in der 450 SX-Klasse dauern nur 20 Minuten plus 1 Runde. Somit ist es kaum verwunderlich, dass die Athleten praktisch ununterbrochen ‚auf Hochtouren‘ laufen. Beim zweiten Lauf in Anaheim, dem dritten der 2018er-Saison in der 250 SX-Klasse, wurde bei Christian Craig während des Rennens die unglaubliche Frequenz von 200 Schlägen pro Minute gemessen. Laut Tickle ist es eine Sache, fit genug zu sein, um ein Rennen zu beenden, aber eine andere, noch Reserven zu haben, um bei Bedarf noch mehr zu geben. Herausragende Fitness und Kondition sind also essentiell, etwa wenn es darum geht, in grenzwertigen Situationen Verletzungen zu vermeiden.

„Supercross ist intensiver [als Motocross] und verlangt noch mehr Konzentration. Nur so kannst du pausenlos angreifen und vermeiden, dass Sprünge zu kurz oder zu weit gehen, und Fehlern vorbeugen“, verrät uns der Fahrer aus North Carolina. „Am Ende geht es um die Konzentration. Bei den Geschwindigkeiten, die wir fahren, darfst du die nicht einmal für einen Augenblick verlieren, sonst läufst du Gefahr, einen schweren Unfall hinzulegen.“

„Bei Outdoor-Rennen [Motocross] geht es um brutales Anschieben, während beim Supercross das Gefühl und der Rhythmus zählen; unsere Rennen dauern zwanzig Minuten plus eine Runde und am Ende bin ich eigentlich nie aus der Puste. Wenn du den ganzen Sommer lang nicht Supercross fährst und dann zurückkommst, denkst du zuerst einmal ‚Verdammt! Was mache ich hier eigentlich?!‘ und du hältst bei den Whoops und den Rhythmus-Sektionen den Atem an: Das Atmen ist beim Supercross enorm wichtig und dabei kommt es nicht darauf an, ob du gerade anfängst oder schon länger mit von der Partie bist.“

Broc Tickle (USA) KTM 450 SX-F San Diego (USA) 2018 © Simon Cudby

Beim Offroad-Fahren werden die meisten Muskelgruppen im Körper belastet und beansprucht. Dank der Sprünge und Landungen, der Schläge und Kratzer ist der Supercross-Sport eine wahre Tortur für den Körper. „Um ehrlich zu sein, genieße ich dieses Gefühl, ‚völlig fertig‘ zu sein; Für mich ist es eine Extra-Motivation, noch weiter zu gehen. Das habe ich beim Training mit Aldon [Baker] und den Jungs gelernt“, so Broc. „Jedes Mal, wenn ich auf die Strecke gehe, geht es darum, alles zu geben, was du hast – das ist das Ziel. Nimm dir Zeit und mach es richtig. In der Vergangenheit fuhr ich brav meine Rennen, aber es war mehr eine Pflichtübung und meine Leistungen ließen dann auch nach. Nach Florida [zu Bakers Factory] zu gehen … war schwierig, weil ich keinen Rhythmus fand, ich die Sprünge nicht fertigspringen konnte und weil der Untergrund sandig und rau ist. Ich hatte ein paar harte Tage da unten, aber das hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin, und ich gebe immer 100 %.“

„Beim Training in Anaheim 2 war ich 9. und lag nur 0,7 Sekunden hinter der besten Zeit: Wir liegen extrem eng beisammen und der Start entscheidet alles. In dieser Gruppe fahren so viele erfahrene Jungs, dass du dir etwas überlegen musst.“

3. Der Wille, es wahr werden zu lassen
„Ich fahre jetzt seit elf Jahren [Supercross], also sollte ich schon daran gewöhnt sein, aber das erste Mal nach einem Sommer des Motocross-Fahrens macht mich eine Supercross-Strecke immer nervös. Nach der ersten Sitzung denke ich dann ‚ist doch nicht so schlimm…‘. Während der Saison, wenn du von Rennen zu Rennen pendelst, siehst du ein Hindernis und beginnst, darüber nachzudenken … in diesem Moment musst du dich darauf konzentrieren, dass du nicht gekommen bist, um Zehnter zu werden. Manchmal denke ich, du musst so weit gehen, zu überschätzen, was eine Strecke hergibt.“

Danach gefragt, ob der Sport ihm immer noch manchmal Furcht einflößt oder ihn zweimal überlegen lässt, macht Tickle eine positive Geste. Rennfahrer müssen als Personen über die Werkzeuge verfügen, um ihre Arbeit zu machen, und ihre körperlichen Stärken mit dem Wunsch, einen hochriskanten Sport auszuüben, verbinden. „Natürlich siehst du dir manchmal ein Rennen an und denkst ‚Mann, die sind sich aber verdammt nahe!‘, aber wenn du selbst fährst, fühlt sich das nicht so an“, versichert er uns. „Oder wenn dir ein ‚Hoppla‘ passiert … fühlt sich das eigentlich recht natürlich an. Im Supercross geht es momentan recht eng zu. Fast jeder Fahrer im Hauptrennen sitzt auf einem Werksmotorrad oder fährt für ein gut versorgtes Team und die Zeiten liegen eng beisammen. Ich glaube, dass die Strecken etwas entschärft wurden, weil die Bikes heute so gut sind, dass man mit ihnen fast alles überspringen kann. Ich denke, dass sie [die Veranstalter] versuchen, eine Mischung aus aufregender Rennaction und Sicherheit für alle zu erreichen. Ich persönlich werde im Laufe der Saison immer stärker. Der Grenzbereich ist so schmal. Du musst mit dir selbst im Einklang stehen und wissen, was um dich herum vorgeht.“

Broc Tickle (USA) KTM 450 SX-F Houston (USA) 2018 © Simon Cudby

Im Supercross-Sport geht es um Vieles, die Liste der Fahrer sucht im Offroad-Sport seinesgleichen (die letzten drei Serien-Champions Ricky Carmichael, Ryan Villopoto und Ryan Dungey zogen sich alle in ihren mittleren oder späten 20ern zurück). Abseits der Elite ist das Verhältnis zwischen Risiko und Ausbeute aber schon mal etwas verzerrt. Die zwanzig Haudegen, die sich von Januar bis Mai jeden Samstagabend am Startgatter aufreihen, haben schon immer viele Entbehrungen auf sich genommen, um einmal die Lichter des Stadiums zu sehen, und werden das auch weiterhin tun. Es scheint aber so, als hätten die meisten eine recht realistische Vorstellung davon, worum es bei der ganzen Sache geht.

„Es ist wichtig, in der Lage zu sein, sich zurückzulehnen und sich anzusehen, wo man steht, da es manchmal ganz schön frustrierend sein kann“, so Tickle. „Du reißt dir die ganze Zeit den Hintern auf und musst lernen, die Dinge zu schätzen. Es ist großartig, hierher zu kommen und zu tun, was wir tun, das kann ich dir versichern.“

Fotos: Simon Cudby