Tom Vialle: Eine Sensation im Rennsport

Der Aufstieg des 19-jährigen Tom Vialle von der Europameisterschaft zum Führenden in der FIM-Weltmeisterschaft in nur 18 Monaten macht momentan in der MXGP Schlagzeilen. Wie ist dem Franzosen dieser Sprung gelungen?

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Tom Vialle – Red Bull KTM Factory Racing
PC @RayArcher

Bis zum Sommer 2018 war Tom Vialle ein kleingewachsener Fahrer, der ab und zu in der EMX250-Europameisterschaft – der Talentschmiede der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft und der MX2-Klasse – von sich reden machte. Tatsächlich war er eher dafür bekannt, der Sohn der Grand-Prix-Legende Frederic Vialle zu sein, als für seine eigenen Leistungen. Allerdings zeigte der Teenager großes Potential und erregte Interesse bei KTM.

Als Jorge Prado vom Red Bull KTM-Team 2018 den ersten von zwei MX2-Titeln holte, entschied sich der Weltmeister von 2017, Pauls Jonass, dafür, in die MXGP aufzusteigen. Dadurch wurde ein Platz im MX2-Team frei. Mit dem Spanier hatte KTM bereits einen der besten Fahrer der Division auf einer KTM 250 SX-F unter Vertrag und es war an der Zeit, ihm ein neues Talent zur Seite zu stellen. Es gab jedoch zwei Probleme. Erstens fand man weit und breit keine herausragenden und offensichtlichen Kandidaten und zweitens würde sich jeder Red Bull KTM-Athlet enormem Druck aussetzen müssen: Seit 2004 und der Umwandlung der alten 125-cm3-Klasse in die MX2 hatte Red Bull KTM alle Titel bis auf vier geholt. 12 Weltmeistertitel mit 8 verschiedenen Fahrern.

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Vialle kämpft in Matterley Basin mit dem britischen Terrain, um sich seinen ersten Laufsieg und seinen ersten Podestplatz des Jahres 2020 zu sichern
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Man entschied sich bei KTM, ein ‚Wagnis‘ einzugehen. Motocross Sports Director von Red Bull KTM Factory Racing, Joel Smets, und KTM VP of Offroad Motorsports Robert Jonas stellten eine Auswahlliste zusammen, auf der auch Vialles Name stand. „In Assen [beim GP der Niederlande im September 2018] unterhielten wir uns ein bisschen; Robert teilte mir mit, dass man an mir interessiert war, dass aber auch noch drei oder vier andere Fahrer mit im Rennen sind und dass es gut wäre, wenn ich mit Joel Smets einen Test in Belgien absolvieren würde“, erinnert sich Vialle. Bei diesem Test, an dem auch andere aussichtsreiche Kandidaten teilnahmen, bekam der Youngster einen ersten Vorgeschmack auf das Leben als Werksfahrer.

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Vialle beim MXGP von Großbritannien 2020
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„Etwa zwei Wochen später begab ich mich zusammen mit meinem Vater nach Belgien. Wir fuhren einen Tag lang auf kompaktem Untergrund und einen Tag lang im Sand von Lommel. Joel verhielt sich richtig cool. Ich spürte fast keinen Druck. Er sagte mir, dass ich einfach fahren und trainieren soll und dass er zusehen würde. Manchmal sah ich ihn neben der Strecke und manchmal nicht! Er beobachtete uns einfach. Am dritten Tag stand körperliches Training auf dem Programm: laufen und einige Tests. Am Ende hatten wir ein kurzes Gespräch. Das Motocross of Nations stand vor der Tür und ich hatte immer noch keinen Vertrag für 2019. Robert hatte mir aber schon in Assen gesagt, dass KTM mich gerne weiterhin behalten wolle und mir helfen würde, ein Team für 2019 zu finden, selbst wenn es sich dabei vielleicht nicht um Red Bull KTM handelte. Wir waren glücklich darüber, dass sich das Werk für uns interessierte … aber es waren nicht mehr viele Teams und Startplätze frei. Wir wurden schon etwas nervös.“

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Joel Smets und Vialles Vater Frederic hatten beide großen Anteil an der Entwicklung des KTM-Rennfahrers
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Smets war von Vialles Technik und seiner Einstellung angetan, erkannte aber auch, dass er noch etwas an seiner Kondition arbeiten musste. „Die Rennen, die ich 2018 fuhr, waren kürzer, also hatte ich noch nie so hart trainiert!“, so Tom. „Vor vier Jahren hatte mich mein Vater nie zum Training angespornt, da er meinte, dass ich schon richtig hart arbeiten müsste, wenn ich es erst in den GP-Sport geschafft hätte. Ich fuhr etwas mit dem Rad, aber das war‘s schon. Das absolute Minimum. Ich befolgte nie ein striktes Programm oder arbeitete mit einem Trainer.“

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Sein Vertrag mit Red Bull KTM Factory Racing bringt einigen Erfolgsdruck mit sich – zusammen mit Teamkollege Prado stellt sich Vialle seit 2019 der Konkurrenz
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Smets war davon überzeugt, dass Vialle es wert war, Zeit, Energie, Trainingsaufwand und einen Vertrag in ihn zu investieren. „Das Nations ging vorüber und ich glaube, dass ich am frühen Montag- oder Dienstagabend eine E-Mail bekam, in der stand, dass man sich nach ‚intensiven Überlegungen‘ für mich entschieden hatte“, erinnert sich Vialle mit einem Lächeln im Gesicht. „Wir gingen in ein Restaurant, um zu feiern! Zu diesem Zeitpunkt war mir noch gar nicht klar, was diese Entscheidung bedeutete: dass ich zum Werksteam stoßen und der Teamkollege von Jeffrey, Tony und Jorge werden würde. Es war schon ein bisschen verrückt.“

„Teil des Vertrages war, dass ich nach Belgien ziehen und anfangen musste, mit Joel zu trainieren“, fügt er hinzu. „Unsere Basis würde in Lommel sein, wo auch das Training stattfinden würde. Das war kein Problem und alles ging ziemlich schnell. Am 1. November saß ich zum ersten Mal auf dem Bike, es begann zu regnen und wir trainierten etwas auf der Red Sands-Strecke in Spanien.“

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Vialle machte 2019 große Fortschritte
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Vialles Ankunft schlug Wellen. Seine kometenhafte Entwicklung trug sofort Früchte, da seine Statur und seine Technik perfekt zur Power des Werksbikes passten. Und schon bald fuhr er dieselben Rundenzeiten wie Prado, wodurch sich (wieder einmal) zwei KTMs an der Spitze der MX2 tummelten. Dank seines Hangs, fast jeden Start zu gewinnen, holte er sich in den ersten vier Rennen zwei Podestplätze (am Ende des Jahres sollten es sieben sein), gewann den Grand Prix von Schweden und wurde in der Weltmeisterschaft Vierter. Der Weg der Startnummer 28 war dabei nicht die Geschichte eines eingebildeten, vor Selbstvertrauen strotzenden 18-Jährigen. Tatsächlich machte seine Bescheidenheit seinen Aufstieg in die Top-10 noch beeindruckender. „Im Jahr 2018 sah ich Jorge und Pauls Jonass dabei zu, wie sie die Meisterschaft unter sich ausmachten, und dachte ‚Mann, sind die schnell‘“, so Vialle. „Ich dachte, dass ich nie so fahren könnte. Ich wusste, dass ich schnell war … aber ich glaubte nicht daran, dass ich jemals auch nur annähernd auf ihrem Level sein würde.“

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Vialle sagt, dass er den Besten in der MX2 früher zugesehen hat – heute gehört er selbst dazu
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Wie hat er es dann doch geschafft? Mit Smets als Lehrmeister begann Vialle wie ein angehender Champion zu leben, zu arbeiten und zu atmen. „Er hätte auch mit seinen alten Trainern Fortschritte gemacht … aber sein Training war unstrukturiert gewesen“, so Smets. „Tom ist nicht faul, aber Fahrer aus dem Süden haben zwar meiner Erfahrung nach oft den Speed, jedoch fehlt ihnen oft die nötige Arbeitsmoral oder das Wissen, wie hart sie arbeiten müssen.“

„Also haben wir sein Training strukturiert und inhaltlich aufgewertet, was aber am Anfang keine so große Priorität hatte“, kommentiert der fünffache Weltmeister. „Es ging eher darum, seinem Leben als Top-Athlet ein System zu geben. Es war nicht einfach. Ich will meine eigene Rolle nicht über Gebühr betonen, aber eine meiner Stärken ist es, Situationen zu analysieren und Lösungen zu finden. Das haben wir mit Tom gemacht und sind die Sache langsam angegangen, was Volumen und Intensität betrifft. Er hatte schnell eine Routine, gewöhnte sich schnell an das Training und dann machten wir 2020 einen weiteren Schritt. Funktioniert ganz gut, so wie es aussieht.“

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Vialle genießt vor dem Start der Saison 2020 eine Fahrt auf seiner KTM 250 SX-F von Red Bull KTM Factory Racing
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„Trainings? Ich habe nie viel trainiert“, sagt Vialle. „Ich behandle es so wie einen Vollzeitjob, obwohl es kein echter ‚Job‘ ist, aufzustehen und laufen zu gehen. Ich trainiere jetzt sechs Tage die Woche, morgens und abends, mit einem Tag Pause. Nach einem Jahr merkst du den Unterschied. Du fühlst dich stärker.“

„Joel war eigentlich mein erster echter Trainer“, erklärt Tom. „Letzten Winter arbeiteten wir fast jeden Tag zusammen und ich fühlte mich schon nach wenigen Tagen in seiner Obhut wohl. Er ist immer gut aufgelegt. Er ist nicht einer dieser Trainer, die alle Fehler, die du in einem Rennen gemacht hast, herausstreichen. Er findet auch dann noch Lob, wenn du nur 15. wirst. Dieser Ansatz ist mir wichtig und ich genieße diese Art der Zusammenarbeit. Mein Vater hat mich nie angetrieben. Tatsächlich war er nur ein einziges Mal nach einem Rennen böse mit mir. Ich hatte keine Ahnung warum und es war das erste Mal in 10 Jahren, dass er so aufgebracht ins Fahrerlager gekommen war! Joel hat viel Erfahrung und ist extrem professionell. Wir haben eine gute Beziehung.“

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Die Mannschaft von Red Bull KTM Factory Racing spornt Vialle beim GP von China 2019 an
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Vialle wird heute von vielen Seiten mit Erwartungen konfrontiert: Von der Marke, den Sponsoren, den Fans. Er ist in den sozialen Medien aktiv, erklärt aber, dass diese ihm nicht „die Welt bedeuten“. Im Jahr 2019 ging ihm ein prestigeträchtiger Startplatz beim Motocross der Nationen nur knapp durch die Lappen. In diesem Jahr konnte er bereits zwei von fünf Rennen gewinnen und hält sich seit dem zweiten Lauf an der Spitze der Rangliste. „Vom Charakter her ist Tom kein Tagträumer“, so Smets. „Er hat, seit er die Führung innehat, noch nie so getan, als ob das Ding im Kasten wäre. Wir haben es schon des Öfteren mit Fahrern zu tun gehabt, denen ein GP-Sieg oder ein Kampf mit dem amtierenden Champion zu Kopf stieg. Aus irgendeinem Grund – wegen ein paar guter Resultate oder eines Werksvertrags – glauben sie, dass sie es geschafft hätten, und heben ab. Es macht mir fast Angst, wie selbstbewusst und entspannt er ist. Meine nächste Aufgabe wird sein, mir das gut anzusehen und sicherzustellen, dass er konzentriert bleibt.“

Fitter, erfahrener und besser an seine Rolle im Werksteam angepasst: Vialle wird langsam zu einem echten Titelanwärter. Eine Hürde muss er aber noch nehmen: dem mentalen Stress standzuhalten, dem jeder Fahrer des Red Bull KTM-Teams mit Titelaspirationen ausgesetzt ist. Er hat sich so schnell in diese Rolle eingelebt, dass es fast scheint, als ob das alles kein Problem sei. Vialles natürliche Mentalität und seine bodenständige Persönlichkeit scheinen weitere Pluspunkte zu sein.

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Nach dem zweiten Lauf der Saison 2020 in Valkenswaard, Niederlande, ist Vialle der Tabellenführer
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„In meiner Kindheit fuhr ich immer hinten im Gewühl mit. Als ich in der Europameisterschaft bei den 85ern fuhr, konnte ich mit Fahrern wie Jago [Geerts, sein Haupt-Gegner für 2020] oder Jorge nicht länger als drei Kurven lang mithalten! Ich wurde 8., 9. oder 10., während diese Jungs immer unter den besten Drei waren. Meine Rundenzeiten im Training waren mehrere Sekunden langsamer. Sie waren wirklich viel besser als ich. Heute kämpfe ich mit ihnen an der Spitze, ich habe also große Fortschritte gemacht. Jago hat mich früher in jedem Rennen geschlagen. Er wusste wahrscheinlich gar nicht, wer ich war. Heute fahren wir gegeneinander um GP-Siege.“

„Als ich den Vertrag mit KTM unterschrieb, wusste ich, dass ich hart arbeiten und viel trainieren muss; und nach ein paar Rennen, die ganz gut liefen, wusste ich, dass ich gar nicht so weit hinten war“, erinnert er sich. „Mein Ziel war, der Spitze in der MX2 in diesem Jahr nahe zu kommen. So früh in der Saison in Führung zu liegen, war gar nicht Teil des Plans gewesen!“

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Die Red Bull KTM Factory Racing 250 SX-F des Franzosen mit der roten Startnummerntafel beim GP von Lettland 2020
PC @JuanPabloAcevedo

Smets dazu: „Er ist realistisch und ehrlich. Einst war er ein durchschnittlicher Europameisterschafts-Fahrer. Bei Vertragsunterzeichnung hat er schnell erkannt, dass er nun viel Arbeit vor sich hatte. Dieser Ansatz hat großen Anteil am ‚Geheimnis‘ seines bisherigen Erfolgs. Mit der roten Startnummerntafel geht er genauso um. Als wir nach dem Lockdown wieder mit dem Training begannen, hatte er diese Tafel auf seinem Trainingsbike und ich dachte, dass wir sie besser abnehmen sollten, aber diesen Burschen kümmert das gar nicht. Er weiß, dass diese Tafel gar nichts aussagt. Rot ist nur eine Farbe. Er weiß, dass die Führung in der Weltmeisterschaft nur dann wichtig ist, wenn du sie am Ende des Jahres immer noch innehast.“

„Für mich zählt nur die Freude [an meiner Arbeit]“, fasst Vialle zusammen. „Die Starts zu gewinnen und danach mit Spaß zu fahren, kann dabei nur hilfreich sein … zu viel Nachdenken bringt nichts.“

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Red Bull KTM Factory Racing darf sich beim GP von Lettland 2020 über ein gutes Ergebnis freuen
PC @JuanPabloAcevedo

Seine Englischkenntnisse sind ein weiterer überzeugender Beweis dafür, wie schnell Vialle lernt. Er bringt ein zwanzigminütiges Interview mit Selbstvertrauen und Enthusiasmus über die Bühne. Der schüchterne Rookie, der im Jahr 2019 gerade mal ein paar Worte (mit starkem Akzent) über die Lippen brachte, ist heute nicht wiederzuerkennen. „Ich hatte noch nie ein Buch gelesen“, sagt er lächelnd. „Letztes Jahr kannte ich nur die Worte ‚hello‘ und ‚goodbye‚‘, ‚good‘ und ‚not good‘ sowie ein paar Schimpfworte! Im Laufe des ersten Winters machte ich keine großen Fortschritte, da ich mit Joel auf Französisch reden konnte. Mit Jeffrey sprach ich nicht viel, da ich nicht konnte. Als ich zum ersten GP angereist war und herausfand, dass mein Mechaniker nur Englisch konnte – wow, das war richtig schwierig. Auch mein Vater konnte nicht gut Englisch. Zusammen mit Joel und Vale [Ragni, Team Co-Ordinator] machte ich einige Fortschritte und dann begannen meine Freundin Celia und ich, nur mehr auf Englisch zu sprechen, und sie half mir, indem sie alles, was ich nicht verstand, auf Französisch übersetzte. Netflix war auch eine große Hilfe!“

Wenn Tom Vialle so weiter macht, werden wir in der Zukunft wohl alle viele Stunden vor dem Fernseher mit MXGP-Übertragungen verbringen.