TRAUMJOB: DER WEG ZUM MXGP-MECHANIKER – TEIL 1

Wie schafft man es in die Königsklasse des Motocross-Sports? Muss man ein technisches Genie sein? Muss man einfach Glück haben? Muss man ein Teamplayer sein? Oder gute Verbindungen haben? Wir haben mit den Mechanikern von Red Bull KTM über ihren Werdegang gesprochen

Bei Red Bull KTM Factory Racing gibt es Menschen unterschiedlichen Alters und Charakters – und alle sind mit Hingabe dabei
PC @RayArcher

Red Bull KTM hat im vergangenen Jahrzehnt siebenmal beide Klassen der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft im gleichen Jahr gewonnen. Für die meisten zeichneten dieselbe technische Crew und dieselben Experten an der Strecke und im Motorsport-HQ in Munderfing verantwortlich. Man kann dieses Team getrost als eines der allerbesten im Grand-Prix-Sport bezeichnen. Hinter den Fahrern und Champions Tony Cairoli, Jeffrey Herlings, Jorge Prado und dem frischgebackenen FIM-MX2-Motocross-Weltmeister 2020 Tom Vialle stehen viele Rennmechaniker: Einige von ihnen haben bereits Schraubenschlüssel geschwungen, bevor die Fahrer geboren wurden, andere sind noch nicht so lange dabei, haben aber trotzdem bereits Wichtiges beigetragen.

Um zu verstehen, wie zwei Australier, ein Belgier und ein Italiener von Mitte 20 bis Ende 50 zu den Eckpfeilern am Rennwochenende eines KTM-Rennfahrers wurden, haben wir uns (mit Mund-Nasen-Schutz und in sicherem Abstand) ins MXGP-Fahrerlager begeben.

Nazzareno Properzi – Tony Cairolis Mechaniker (ist seit Beginn von Cairolis Profi-Karriere Teil des Teams von De Carli)
PC @RayArcher

Nazzareno Properzi – Mechaniker von Tony Cairoli. 59 Jahre alt.

Der kleingewachsene, italienische Brillenträger, der das Bike mit der Startnummer 222 vorbereitet, ist wohl jedem aufgefallen, der in den letzten fünfzehn Jahren ein MXGP-Fahrerlager oder Claudio De Carlis Team besucht hat. Properzi gehört seit den frühen 1990ern zur Mannschaft von De Carli und erinnert sich daran, wie sich das Team im Jahr 2004 entschied, einem mageren 18-jährigen Teenager eine Chance zu geben. „Tony war ein Junge, der an harte Arbeit gewohnt war und die richtige Einstellung mitbrachte“, so ‚Nazza‘. „Wir kannten ihn, weil er aus Sizilien stammt und weil es nicht viele Fahrer seiner Herkunft in der italienischen Meisterschaft gab. Er war unglücklich und wollte den Motocross-Sport schon nach seiner ersten internationalen Saison 2003 hinschmeißen, aber ein Freund von Claudio – ein ehemaliger Rennfahrer – empfahl uns, ihm eine Chance zu geben. Er fuhr einen Test auf der Strecke von Malagrotta mit einem von Claudio Federicis Bikes und damit begann die Reise.“

Die Zusammenarbeit zwischen Properzi und De Carli begann in einer Motocross- und Enduro-Werkstatt in Rom. Von den bescheidenen Anfängen des Teams mit Federici in der Europameisterschaft bis zu zwei Weltmeistertiteln mit Alessio ‚Chicco‘ Chiodi, der Cairoli-Ära (sechs Titel mit KTM) und der aktuellen Jagd nach einem neuen Rekord wurde das Band der beiden immer stärker. „Mich motivieren immer noch Siege“, gibt er zu Protokoll. „Ich möchte es auf zehn Titel mit Tony schaffen und werde nicht aufhören, bis wir das erreicht haben!“

Das Team arbeitet zusammen, um sicherzugehen, dass alles gut vorbereitet ist
PC @RayArcher

Properzis Arbeit hat sich über die Jahre verändert – besonders, nachdem De Carli im Jahr 2010 fester Bestandteil des Red Bull KTM-Aufgebots wurde. Der Werksstatus des Teams führte dazu, dass sein Verantwortungsbereich ausgedehnt wurde und er mit Gruppen wie WP für Federungs- und Fahrwerkskonfigurationen zusammenarbeiten musste. Statt für jedes Teil und alle Komponenten des Motorrads verantwortlich zu sein, wurde seine Rolle als Mechaniker gefestigt. Und das war auch notwendig, nachdem die MXGP zu einer globalen Serie mit 20 Läufen angewachsen war.

Properzis Meinung nach schreckt das ständige Herumreisen, das mit einem Job im Grand-Prix-Sport verbunden ist, viele ab, die davon träumen, in seine oder die Fußstapfen der 3-4 anderen Techniker im Team zu treten. „Das Interesse an meinem Job ist nicht besonders groß“, verrät er uns. „Wenn du diese Arbeit machen willst, musst du bereit sein, die Bande mit deiner Familie und deiner Heimat früh zu kappen. Es gibt Leute, die das Zeug dazu haben … diese Aufgabe erfordert aber große Veränderungen am Lebensstil. Ich würde auch jedem empfehlen, in einem kleinen Team zu starten, alles über den Job zu lernen und als Fachkraft zu wachsen. So findest du heraus, ob du dafür gemacht bist oder nicht.“

Von links nach rechts: Bart Dirkx, Claudio De Carli, Davide De Carli & Jorge Prado
PC @StefanoTaglioni

Bart Dirkx – Mechaniker von Jorge Prado, 50 Jahre alt.

Auf den ersten Blick mutet die Partnerschaft zwischen Bart Dirkx und Jorge Prado etwas merkwürdig an: Einer der ältesten Mechaniker der MXGP schwingt die Schraubenschlüssel für den jüngsten Fahrer der Klasse. Der Belgier und der Spanier haben aber ein starkes Band, das bereits vor dem Einstieg Prados in den GP-Sport 2018 bestanden hatte. Dirkx ist seit mehr als 15 Jahren Teil der MXGP und hat bereits früher für Red Bull KTM Factory Racing gearbeitet – damals als Mechaniker für Max Nagl. Er folgte dem Deutschen zu IceOne Husqvarna, kehrte aber im zweiten Grand-Prix-Jahr Prados und für seinen ersten von zwei MX2-Titeln an die Seite De Carlis zurück.

Dirkx und Properzi arbeiten an den KTM 450 SX-Fs von Prado und Cairoli
PC @RayArcher

Als Prado von Spanien nach Belgien umzog, um als KTM-Juniorenfahrer seinen Weg nach oben zu beginnen, war Dirkx sein erster Mechaniker gewesen. Nagl zog sich eine Rückenverletzung zu, die ihn für sieben Monate aus dem Rennen warf. Dirkx‘ offene Einstellung führte dazu, dass er für den heranwachsenden Prado arbeitete, als dieser in der Europameisterschaft eine KTM 85 SX fuhr. Er ließ Prados Familie sogar einen Monat in seinem Haus leben, damit sich diese an den EMX-Rennzirkus gewöhnen konnte. Als sein ‚Profi‘-Rennfahrer wieder fit war, kehrte Dirkx an Nagls Seite zurück.

„Damals fragten mich viele, was ich von diesem Jungen hielt, und ich antwortete meistens, dass er sicher eines Tages Weltmeister sein würde. Er konnte wirklich fahren. Auf der 85er war er das kleinste Kind in der Gruppe. Mit 12 fuhr er gegen Jungs, die 15 waren. Unglaubliche Starts, selbst damals schon. Als Max wieder anfing zu fahren, trennten wir uns, und ich erinnere mich, dass Jorge weinte, weil wir so ein enges Verhältnis hatten.“

Dirkx und Prado arbeiten zusammen, seit Prado ein Junioren-Rennfahrer war
PC @RayArcher

Dirkx‘ Mechanikerlaufbahn wurde ihm in die Wiege gelegt. „Mein Vater hatte eine Motocross-Werkstatt und so arbeitete ich ständig an Motorrädern – zusammen mit meinem Bruder. Ich studierte Mathematik und Marketing und machte dann einen dreijährigen Kurs zum Mechaniker, arbeitete aber vor und nach der Schule und an den Wochenenden immer in der Werkstatt.“

Sein Durchbruch im Motocross-Sport kam, als er für einen jungen Amateur-Rennfahrer arbeitete und bei einem internationalen Event in China, bei dem sein Fahrer Belgien in der Unter-17-Kategorie vertrat, die Kastanien aus dem Feuer holte. „Am ersten Tag brach sein Kurbelgehäuse“, erinnert er sich. „Es war ein 250er-4-Takt-Motor, also musste ich alles zerlegen. Ich arbeitete die ganze Nacht und am Morgen lief das Ding. Wir bestritten alle drei Tage mit demselben Bike. Es war hart. Ich hatte nicht mein ganzes Werkzeug von zuhause mitgenommen. Es war ein Abenteuer. Als wir zurückkamen, machte in der kleinen Renngemeinschaft die Geschichte die Runde, dass ich das Bike am Laufen gehalten hatte, und ich bekam ein paar Anrufe. Bei einem dieser Anrufe bekam ich das Angebot, für Claudio de Carlis Team zu arbeiten.“

Dirkx sieht sich mit einem WP-Federungstechniker die Daten an
PC @RayArcher

Dirkx warnt Interessierte davor, falsche Erwartungen zu haben. „Von außen sieht es toll aus, aber es ist nicht einfach. Es sieht nach Ruhm und Spaß aus, erfordert aber viel Arbeit und Hingabe. Rennen, Tests und Training. Normalerweise beginnt man als Trainingsmechaniker. Man muss viel Vorarbeit leisten und verbringt viel Zeit im Auto. In einem Jahr mit Max Nagl legte ich in meinem Van 22.000 km zurück, noch bevor die GP-Saison überhaupt begonnen hatte! Es ist wichtig, ein gutes Gleichgewicht zu finden.“

Wie sein Kollege ermuntert auch Dirkx aufstrebende Mechaniker, möglichst viel Erfahrung zu sammeln, bevor sie eine Position in der höchsten Klasse anstreben. „Für ein kleines Team zu arbeiten, kann interessant sein, da man viele Aspekte des Bikes hautnah kennenlernt und sein Wissen und seine Erfahrung aufbauen kann. Man muss aber auch eine solide Basis haben – entweder durch formale Bildung oder die Arbeit an Motoren seit der Kindheit. Manche Leute kommen sehr jung in Werksteams … trotzdem muss man Erfahrung im Rucksack und gute Kontakte haben!“

Die Aufgaben eines Mechanikers sind vielfältig: von der Vorbereitung des Bikes bis hin zur technischen Kontrolle, zum Reinigen des Bikes und der Arbeit mit dem Fahrer
PC @RayArcher

Ein Mechaniker im Grand-Prix-Sport zu sein, ist stressig und aufregend zugleich und jedes Teammitglied kann seine eigene Geschichte darüber erzählen, wie es dazu kam, um die Welt zu reisen und mit einigen der besten Fahrer des Planeten zu arbeiten. Im zweiten Teil dieses Blogs lesen wir die einzigartigen Geschichten der Mechaniker von Jeffrey Herlings und dem neugekrönten FIM-MX2-Motocross-Weltmeister Tom Vialle.