UND AUF EINMAL GAB ES KEINE RENNEN MEHR …

Welche Folgen hat die COVID-19-Pandemie für die weltbesten MXGP-Fahrer? Drei Red Bull KTM Factory Racing-Stars erzählen uns von ihren Sorgen, Erfahrungen und Plänen.

Motocross: Keine andere Disziplin des Motorrad-Rennsports erfordert eine ähnlich gute Kondition und mehr Testzeit. Der Grund dafür ist nicht nur die schiere Anzahl an Rennen (20 MXGPs, mehrere „Internationals“, die während der Vorsaison zum Testen gefahren werden, und nationale Fixtermine, die oft darin enden, dass Fahrer 30 Wochen im Jahr im Sattel sitzen), sondern auch das unaufhörliche Training, um in Form zu bleiben und von kompakten Untergründen bis zu tiefem Sand alle Terrains zu beherrschen sowie das immens wichtige ‚Gefühl‘ für das Bike nicht zu verlieren und innerhalb von Millisekunden auf sich ständig ändernde Streckenbedingungen reagieren zu können.

An der Spitze der MXGP – das Red Bull KTM Factory Racing-Team hatte einen positiven Start in die Saison 2020.
PC @Ray Archer

In diesem Jahr kam die FIM-Motocross-Weltmeisterschaft nach nur zwei Läufen zum Stillstand. Zuerst wurde der dritte Grand Prix in Argentinien verschoben, dann gesellte sich die MXGP zum Rest des internationalen Sports und legte die Saison vorerst auf Eis. Bestimmungen und Einschränkungen hatten einen massiven Effekt auf den Tagesablauf aller Beteiligten, inklusive der Motocross-Rennfahrer selbst. Die #stayhome-Bestimmungen hatten zur Folge, dass viele nicht mehr ins Fitnessstudio durften und ihre gewohnten Fahrrad-/Laufrouten gesperrt wurden. Fast alle Trainings-Bikes mussten bis auf Weiteres geparkt werden – entweder aufgrund geschlossener Teststrecken oder um Verletzungen zu verhindern (um medizinische Ressourcen freizuhalten).

Typischerweise nehmen sich Grand-Prix-Fahrer am Ende einer regulären Saison zwei Wochen frei. Im Winter folgen dann Basis- und Fahrtraining sowie Tests, bevor die nächste Vorsaison mit den ersten kühlen Events in Europa beginnt. Außerhalb dieser Zeit sitzen die Fahrer nur dann nicht auf einem Bike, wenn sie eine Verletzung auskurieren.

Für Menschen, die sich seit ihrer Pubertät einem Sport verschrieben haben, ist eine fünfmonatige Auszeit (vom Grand Prix der Niederlande Anfang März bis zu ‚Lauf drei‘ in Russland Ende August) kaum vorstellbar. Die Situation kann wohl am besten mit dem Wort ‚orientierungslos‘ beschrieben werden. Besonders, da sich der Kalender andauernd ändert (der GP von Russland hätte eigentlich im Juli stattfinden sollen) und die Fahrer wissen müssen, wann sie für die kurze und komprimierte Meisterschaft im Herbst und Winter topfit sein müssen.

Cairoli hat neun FIM-Motocross-Weltmeistertitel in der Tasche und viele Jahre Erfahrung.
PC @Ray Archer

„Wir können nicht viel tun oder planen, weil wir den Zeitplan nicht in der Hand haben,“ sagt etwa der neunfache Weltmeister Tony Cairoli, der Fahrer mit der zweitgrößten Erfahrung in der Königsklasse. „Für uns als Fahrer ist das schon eine merkwürdige Situation, aber natürlich geht es hier um ein Problem, das viel größer ist als unser Sport. Wir müssen darauf warten, was die lokalen Behörden sagen … das Schwierige ist, dass wir unser Training nicht planen können. Man will ja nicht zu früh oder zu spät bereit sein. Das kann mitunter schon stressig sein. Ich habe ja schon etwas Erfahrung! Also nehme ich die Situation so, wie sie ist, und versuche, die beste Zeit zu erwischen, um wieder voll da zu sein.“

Das fünfköpfige Red Bull KTM Factory Racing-Team – eine Mannschaft, welche seit 2010 sieben Mal beide Kronen geholt hat – zehrt von der langen Erfolgsgeschichte Cairolis ebenso wie von der überwältigenden Stärke eines Jeffrey Herlings (beide haben beinahe gleich viele GP-Siege errungen) sowie den Rekorden von Jorge Prado und 18-jährigen Rookies wie Tom Vialle und Rene Hofer.

Sie können ihre eigenen Geschichten erzählen. Sowohl Cairoli (Schulter und Knie) als auch Prado (ein Oberschenkelbruch im Dezember) waren für die Pause dankbar, um ihre Verletzungen auszukurieren und an einer Rückkehr zu ihrer Form zu arbeiten. Herlings und Vialle führen die MXGP- bzw. MX2-Klasse an und sind entsprechend frustriert darüber, dass ihr Siegeszug so abrupt aufgehalten wurde, während Hofer seine Chancen gefährdet sieht, in seiner ersten Grand-Prix-Saison dazuzulernen.

Dass es noch in den Sternen steht, wie und wann die Saison weitergeht, hält die Fahrer aber nicht davon ab, sich so gut wie möglich vorzubereiten. „In gewisser Weise ist diese Situation gut, da mein Knie dadurch besser heilen kann“, sagt Cairoli. „Meine Schulterverletzung ist etwas komplizierter und wird mir wohl noch länger zu schaffen machen. Sie heilt nur langsam und ich glaube, dass ich bei der Wiederaufnahme der Weltmeisterschaft besser vorbereitet sein werde als beim ersten Lauf.“

Jorge Prado freut sich darauf, auf die Rennstrecke zurückzukehren, obwohl noch nicht feststeht, ob große Mengen an Fans erlaubt sein werden. PC @Ray Archer

„Normalerweise würden wir zu dieser Zeit mehr oder weniger jedes Wochenende ein Rennen fahren. Deshalb fühlt es sich merkwürdig an, nicht einmal fahren zu dürfen“, so Prado, der in seinen erst drei Jahren im Grand-Prix-Sport zwei MX2-Weltmeistertitel holen konnte. „Mein Bein ist noch nicht ganz wiederhergestellt, aber es sollte nicht mehr lange dauern. Der Oberschenkelknochen ist nicht das eigentliche Problem, sondern mein Knie, auf das ich bei meinem Unfall einen schweren Schlag bekommen habe. Derzeit versuche ich, das in den Griff zu bekommen, da ich mich damit unwohl fühle und es manchmal sehr weh tut. Außerdem versuche ich mit Krafttraining etwas von der Muskelmasse zurückzugewinnen, die ich während meiner Erholungsphase verloren habe. Ich konnte im Winter nicht richtig trainieren, also hole ich das jetzt nach.“

„Bei den ersten beiden Läufen habt ihr einen Jorge gesehen, der nicht ganz in Form war … das will ich ändern und wieder voll fit sein, wenn es weitergeht“, fügt er hinzu.

Prado lebt heute in seiner alten Heimat Belgien anstatt in Rom, wo er von 2018 bis 2019 und während der Vorbereitung auf 2020 gewohnt hat. „Ich verbringe Zeit mit meiner Familie, wofür ich in den letzten zwei oder drei Jahren nicht wirklich Zeit hatte. Wir sind immer zusammen. In Italien tat ich eigentlich das Gleiche, was ich hier auch tue … ich freue mich aber darauf, bald wieder auf unserer Team-Strecke fahren zu können.“

Es ist wichtig, für die Meisterschaft in Topform zu sein – Vialle arbeitet eng mit Joel Smets zusammen, um zu garantieren, dass er in perfekter Verfassung ist. PC @Ray Archer

Auch Vialle hielt sich in Belgien auf. Der 18-Jährige fährt erst sein zweites Jahr im Grand-Prix-Sport, führt die Tabelle aber bereits jetzt an, was seine Chancen auf den Titel unterstreicht. „Nach Valkenswaard war ich äußerst motiviert. Dann aber wurde Argentinien verschoben und der Kalender laufend verändert. Das bedeutet, dass unser nächstes Rennen in weiter Ferne ist, was sich schon komisch anfühlt, da wir uns ja den ganzen Winter auf einen bestimmten Plan vorbereitet haben“, gibt der Franzose zu Protokoll. „Wir haben beschlossen, uns zwei Wochen lang freizunehmen und dann einen Monat lang zu trainieren: genau wie im Winter mit dem Fokus auf Fahrrad- und Mountainbike-Fahren – bis es wieder möglich ist, auf der Strecke zu fahren. Wann das sein wird, weiß niemand.”

Vialle kann auf die Expertise und das Wissen von Red Bull KTM Factory Racing Motocross Sports Director Joel Smets zurückgreifen. Aber selbst der fünffache Weltmeister wurde von den Umständen etwas ‚kalt erwischt‘. „Heuer ist erst meine zweite Saison im GP-Sport und so eine Situation habe ich noch nicht erlebt. Ich glaube, dass es auch für Joel schwierig war, unsere Woche und unser Training zu planen“, so Vialle. „Das war auch für ihn alles neu! Sei‘s drum: Wir haben in den letzten beiden Monaten gut zusammengearbeitet, die Zeit ist schnell vergangen und wir haben uns nicht zu Tode gelangweilt, obwohl es schon hart war ohne Bike und ganz ohne Konkurrenz.”

Vialle führt die MX2-Klasse nach zwei Läufen an, doch die Zwangspause hat auch den Siegeszug des Franzosen zum Stillstand gebracht. PC @Ray Archer

Die Fahrer sprechen selbst nicht über ihre Angst vor COVID-19. Als junge, extrem fitte Athleten gehören sie zu einer Gruppe mit sehr niedrigem Risiko (selbst der Asthmatiker Cairoli) und dennoch sind sie sich der hochansteckenden Natur des Virus, der die Bevölkerung aller Länder schwer getroffen hat, bewusst. „Die Situation ist überall schwierig und man muss sehr vorsichtig sein“, so Prado. „Obwohl wir hier in Belgien von Anfang an rausgehen durften (etwas, das meiner Familie in Spanien verboten war), waren wir sehr vorsichtig und achtsam. Viele Menschen begreifen immer noch nicht, wie ernst die Situation ist … obwohl es eigentlich einfach ist, die Regeln zu befolgen.“

Vialle meint, dass „es gute Gründe zur Sorge“ gibt. „Ich hatte Glück. Alle in meiner Familie sind gesund. Wir haben uns alle an die Regeln gehalten. Das war sehr wichtig. Ich hatte wahrscheinlich auch Glück, in Belgien zu sein. In Frankreich wäre es aufgrund des Lockdowns schwierig gewesen, zu trainieren. Hier konnte ich laufen und Rad fahren und mich im Freien aufhalten.“

„Hier in Italien werden die Beschränkungen langsam gelockert und wir werden sehen, wie sich das auswirkt und ob dieses Problem behoben werden kann“, bemerkt Cairoli. „Ich würde gerne wieder so viel wie möglich fahren.“

Die meisten Fahrer trainieren schon wieder auf dem Bike, obwohl der Rennkalender weiterhin provisorisch ist.
PC @JP Acevedo.

Beim Trainieren geht es nicht nur darum, professionell zu sein. Die Kommentare der Fahrer verraten, wie süchtig sie nach dem Motorradfahren sind – eine wichtige Charaktereigenschaft, die auf dem schwierigen Pfad zur Spitze extrem hilfreich ist. „Natürlich ist es hart, so lange nicht im Sattel zu sitzen und keine Rennen zu fahren … wir können es kaum erwarten, wieder auf die Strecke zurückzukehren und um Spitzenplätze und Siege zu kämpfen. Darum geht es schließlich“, so Dauerbrenner Cairoli, der seit 2003 Grand-Prix-Rennen fährt und mittlerweile 34 Lenze zählt.

„In meinem Kopf schwirrten viele Fragen herum: Würde ich sofort wieder so schnell sein wie vorher? Nach einem GP zwei Monate zu pausieren, das ist schon eine lange Zeit“, sagt Vialle. „Ich machte mir Sorgen darüber, aber als ich wieder auf dem Bike saß, fühlte es sich sofort gut an und so, als ob seit Valkenwaard keine Zeit vergangen wäre. Das machte mich richtig glücklich. Wenn der nächste GP in einer oder zwei Wochen stattfinden würde – ich wäre sofort wieder so schnell wie vorher. Das bedeutet mir viel.“

Wie viele andere, haben die Fahrer auch versucht, die Zeit sinnvoll zu nutzen (Vialle: „Ich machte ein paar Videos und Fotos für Instagram mit KTM, MXGP und Red Bull. Ich glaube, dass viele Fahrer das gemacht haben. Das hat Spaß gemacht. Außerdem machte ich zusammen mit Marvin Musquin eine Live-Übertragung. Auch das habe ich genossen.“). In der Tat haben die erzwungene Auszeit von ihrem Sport, die Besessenheit und die Leidenschaft dazu geführt, dass ihr ‚Feuer‘ wieder ‚entfacht‘ wurde. „Wenn du wieder fahren kannst, willst du gar nicht mehr absteigen“, sagt Vialle mit einem Lächeln.

Die Pause hat Prado und anderen Fahrern erlaubt, sich länger auszukurieren oder auf den Neustart vorzubereiten.
PC @JP Acevedo

„Ich wollte einfach nur wieder Rennen fahren. Das ist meine Passion und der Job des Teams“, so Prado.

„Diese Zeit wird uns sicher wieder richtig zum Rennfahren anspornen“, sagt Cairoli. „Viele Menschen haben Interesse an unserem Sport – seien es GPs oder Amateur-Rennen – und ich glaube, dass viele es nicht mehr erwarten können, wieder fahren zu dürfen. Du vermisst das Adrenalin und das Rennfahren. Du kannst zwar auch alleine schwitzen und trainieren, aber mit dem Motorrad ist es doch etwas anderes.“

Nach dem zweiten Lauf der Saison in Valkenswaard, Niederlande, ist Vialle der Tabellenführer in der MX2-Klasse.
PC @Ray Archer