WIE AUS DER PISTOLE GESCHOSSEN: TOM VIALLE ZU MOTOCROSS-HOLESHOTS

Tom Vialle, der MX2-Weltmeister des Jahres 2020, ist der beste Starter in der MXGP. Punkt. Der Franzose hat in der Saison 2021 bei 28 Starts 22 Holeshots geholt – mehr als jeder andere Fahrer quer durch alle Klassen. Wir haben ihn gefragt, was sein Geheimnis ist.

Red Bull KTM Factory Racings Tom Vialle holt sich den Holeshot auf seiner KTM 250 SX-F in Runde 18 in Mantova (Italien) in der Saison 2021
PC @RayArcher

Grand-Prix-Starts muten laut, aggressiv und furchterregend an, verlangen aber mehr Feingefühl als man vermuten würde. Wenn vierzig Fahrer, die alle hungrig auf den Sieg sind, sich nebeneinander aufstellen, zählt nur eines: der Holeshot. Ist es eine Sache des richtigen Timings? Der Power? Der Konzentration? Des Fahrergewichts?

Seit nunmehr 5 Jahren verwendet man in der MXGP statt der alten ‚einfachen‘ Gatter Plattformen aus Metallgeflecht. Das hat nur dazu geführt, dass die Fahrer in der MXGP und der MX2 – wo Bike-Performance, Fahrerfitness und Talent schon vorher Kopf an Kopf fuhren – jetzt noch enger beisammen liegen. Rennstarts sehen so einfach aus: Das Gatter fällt, die Fahrer geben Vollgas, bis sie für die erste Kurve abbremsen und sich ihren vorübergehenden Platz in der Meute suchen müssen. Aufgrund des hohen Niveaus wurden die Starts in der MXGP in den letzten Jahren immer wichtiger, da es auf einigen der ‚oldschool‘-Strecken schwierig ist, zu überholen

Vialle am Start beim Hawkstone Park International von 2022
PC @RayArcher

Tatsächlich spielen bei einem guten Motocross-Start einige Faktoren mit; so zum Beispiel die richtige Bereifung, das Drehzahlniveau (nicht einfach, wenn man neben vielen anderen Bikes steht, weshalb viele Rennfahrer ein Lämpchen als Referenz verwenden), die Körperposition des Fahrers und seine Reaktionsschnelligkeit mit der Kupplung, seine Technik beim Gasgeben aus dem Gatter heraus, in den Dreck und dann der Kurveneingang.

Dank des Fox-Awards und einer weißen Kreidelinie, die vom Vorderrad des an der ersten Kurve in Führung liegenden Motorrads durchbrochen wird, wurde es einfacher, zu ermitteln, wer den ‚Holeshot‘ geholt hat.

Dabei wurde der 21-jährige Tom Vialle auf seiner von Red Bull KTM Factory Racing eingesetzten KTM 250 SX-F in nur drei Jahren in der MX2 zu einem echten Meister. Als Rookie holte er im Jahr 2019 8 Holeshots und konnte seine Ausbeute in seiner Titel-Saison auf 21 mehr als verdoppeln (das bedeutet, dass die orange Nummer 28 zu dieser Zeit bei fast 60 % aller MX2-GPs die Spitze bildete). 2021 erhöhte er die Zahl auf 22, obwohl er zwei Läufe verletzungsbedingt auslassen musste. Sein engster Rivale konnte dagegen nur 3 holen.

Für Vialle sind die wichtigsten Faktoren für einen guten Start das Gefühl für das Bike, die Konzentration und der Glaube an sich selbst.
PC @RayArcher

„Als ich vor drei Jahren zum Team stieß, wusste ich, wie wichtig die Starts für mich sein würden: wichtiger noch als für jeden anderen Fahrer“, erzählt Tom. „Warum? Weil ich aus der EMX in die MX2 aufgestiegen war und wenn du aus einer der unteren Klassen aufsteigst und dich verbessern willst, ist es wichtig, vorne zu starten und von den schnellen Leuten zu lernen. Das war eines meiner Ziele gewesen. 2019 war Jorge [Prado – ehemaliger Teamkollege] mein Teamkollege und vom 2. Platz zu starten war gut, da ich ihm dadurch auf die Finger schauen konnte. Ich habe viel von ihm und anderen Jungs wie Thomas Kjer Olsen gelernt. Gegen Ende der Saison 2019 finalisierte ich zusammen mit Joel [Smets, Red Bull KTM Team Manager] eine Technik, die richtig gut funktionierte, und konnte 2020 viele Holeshots holen.“

Ist deine Reaktionsschnelligkeit der Schlüssel dazu? Oder gibt es noch andere Gründe?

Nein, meine Reaktionen sind gar nicht so schnell! Beim Trainieren mit dem Ball [schnelles Fangen, eine Reaktionsübung] schneide ich ganz gut ab, arbeite aber nicht besonders hart daran. Natürlich benötigt man gute Reaktionen, um einen Start zu gewinnen. Ich glaube aber, dass es wichtiger ist, was passiert, wenn das Gatter fällt. Das Gefühl für das Bike, seine Power und sein Verhalten. Wenn wir eine Technik ausgetüftelt haben, die für uns funktioniert, dann bleiben wir dabei. Ich spüre gerne die Verbindung zwischen mir und dem Bike über die Kupplung. Bei den GPs findet man mich am Samstag immer auf der Teststrecke, wo ich Starts trainiere. Ich teste die Kupplung und den Druckpunkt. Das macht meiner Meinung nach den Unterschied. Dann muss man noch das Gatter ‚lesen‘ können: Manchmal ist der Weg in den Dreck sehr eben, manchmal ist ein kleiner Sprung dabei. Diese Unterschiede machen es notwendig, die Technik zu ändern. Es gibt nicht die eine Technik, die für jede Strecke passt. Meiner Meinung nach sind die wichtigsten Faktoren für einen guten Start das Gefühl für das Bike, die Konzentration und der Glaube an dich selbst.

Harry Norton (Tom’s Mechaniker) bereitet das Bike für einen weiteren Holeshot in Pietramurata (Italien – 2021) vor
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Klingt so, als spiele der Samstag eine Schlüsselrolle bei deiner Vorbereitung. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass das Bike eine Maschine ist, die sich nicht jedes Mal gleich anfühlt …

Ja, am Bike werden für jeden GP viele Änderungen vorgenommen. Wenn ich an den Wochentagen trainiere, übe ich keine Starts. Ich warte bis zum Samstag, um die Einstellungen zu machen. So viele Starts zu gewinnen, gibt einem diese Art von Selbstvertrauen. Ich habe das einmal mit Jeffrey [Herlings] besprochen: Wenn du ein paar Starts in Folge versaust, hast du gleich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dann fängst du an, nicht mehr an dich selbst zu glauben. 2021 konnte ich viele Holeshots in Folge gewinnen, was mir Vertrauen in meine Vorgehensweise gibt. Wie gesagt: Die mentale Seite ist wirklich wichtig.

Du bist einer der kleineren Jungs im Starterfeld. Achtest du dennoch auf dein Gewicht?

Ein Fahrer, der nur 60 kg wiegt, startet natürlich schneller als einer mit 80 kg. Trotzdem achte ich nicht penibel auf mein Gewicht. Sicher passe ich darauf auf, aber ich bin nicht besessen davon. Tatsächlich habe ich mich vor zwei Wochen das letzte Mal gewogen. Ich glaube nicht, dass 2 kg mehr oder weniger einen Einfluss auf meine Starts haben. 5 – 10 kg spürst du wahrscheinlich schon eher. Man muss aber auch sagen, dass ein schwererer Fahrer am Start mehr Grip erzeugt!

Dank einer weißen Kreidelinie, die vom Vorderrad des an der ersten Kurve in Führung liegenden Motorrads durchbrochen wird, wurde es einfacher, zu ermitteln, wer den ‚Holeshot‘ gewonnen hat
PC @RayArcher

Bist du schon einmal so schnell gestartet, dass du dir gedacht hast: ‚Wo sind die anderen?‘

Beim ersten GP 2021 in Arco di Trentino legte ich einen richtig guten Start hin. Einen meiner besten seit langem. Auch in Mantova 2020 hatte ich einen guten und habe Fotos gesehen, auf denen ich auf einer der kürzesten Geraden der Saison fast eine Bikelänge Vorsprung habe.

Welche Gefühle hast du bei einem Holeshot? Aufregung? Oder entspannt es dich, zu wissen, dass du die Hälfte der Arbeit bereits hinter dir hast?

Für mich stellt der Start ein „Rennen“ dar und nach der ersten Kurve beginnt ein anderes! Ich möchte den Start ‚gewinnen‘ und danach will ich das Rennen gewinnen. Wenn ich mich auf den Start konzentriere, denke ich gar nicht an das Rennen selbst. Ich kenne einige Jungs, die bereits ihre Linie für die zweite Kurve im Kopf haben. Ich aber konzentriere mich voll auf den Start. So ticke ich. Außerdem kommt es auch auf die Strecke an. Arco hat einen der härtesten Böden aller Strecken und bei den MX2-Rennen ist immer viel Wasser auf dem Boden, da die Strecke für die Rennen bewässert wird. In den ersten zwei oder drei Runden kann man deshalb nicht ganz so aggressiv angreifen. Man muss es etwas ruhiger angehen lassen. Nach zehn Minuten fängt die Strecke an aufzutrocknen und man kann schneller fahren. Wenn du ab der ersten Kurve Vollgas gibst, wirst du stürzen. In meiner ersten Saison 2019 passierte mir das ein paar Mal. Ich lag hinter Jorge und rutschte einige Male aus. Zurück im Fahrerlager sagte ich Joel, dass ich „genauso schnell wie Jorge“ war, begriff aber schnell, dass ich die ersten drei Runden etwas vom Gas gehen musste und erst dann richtig angreifen durfte – besonders, wenn es um den Meisterschaftssieg geht.

“Wenn man sich am Start aufstellt, muss man an sich selbst glauben…” – Tom Vialle über den mentalen Aspekt von Starts
PC @RayArcher

Hütest du deine Geheimnisse gut? Es muss Viele geben, die versuchen wollen, dich zu kopieren …

Alles, was man als Fahrer tut, ist öffentlich. Jeder kann sich Filmaufnahmen ansehen und deine Technik analysieren. Aber ohne Erklärung kann es schwierig werden, jedes Detail zu erkennen!

Welchen Tipp würdest du jemandem geben, der am Start Probleme hat oder sich dringend verbessern möchte?

Wichtig ist der mentale Aspekt. Wenn man sich am Start aufstellt, muss man an sich selbst glauben und davon überzeugt sein, stärker als die Fahrer rechts und links von einem zu sein. Man muss daran glauben, besser zu sein. Man sollte außerdem den besten GP-Fahrern zusehen: Als Hobby-Fahrer oder Anfänger ist es hilfreich, den besten der Welt auf die Finger zu schauen. Weiters sollte man ein gutes Gefühl für die Kupplung entwickeln und einen Weg finden, den Grip aus dem Gatter heraus zu bewerten. Nach dem Start sollte man die Füße so schnell wie möglich auf die Fußrasten stellen, um die Traktion zu maximieren. Und dann heißt es natürlich üben, üben, üben!

“Ich will den Start gewinnen und danach das Rennen”… etwas das in Frankreich 2021 voll aufging
PC @RayArcher

„Ein Startplatz unter den besten 5 macht dein ‚Leben‘ leichter als einer unter den besten 15. Da hinten kann auch viel mehr schiefgehen. Das Risiko ist dort höher.”

Tom Vialle #28