GEGEN DEN STURM: WIE REMY GARDNER MOTO2™ WELTMEISTER WURDE

Ein hart erkämpfter 10. Platz beim GP von Valencia am 14. November reichte Remy Gardner zum Titelgewinn in der Moto2™-Klasse. Er ist erst der 2. Australier, dem dieses Kunststück in der ‚mittleren‘ Kategorie gelungen ist. Lies weiter, um zu erfahren, wie der 23-Jährige sich beim 18. und letzten Lauf zur Moto2-Saison 2021 den Titel sichern konnte.

Remy Gardner – der erste Australier, der eine Moto2™ Weltmeisterschaft gewinnt
PC @Rob Gray

Sonntag im spanischen Valencia: Remy Gardner sieht blass und müde aus. Vielleicht ist er so erschöpft, weil er nicht genug Schlaf bekommt: Bei einem Unfall in Portugal neun Tage zuvor hatte er sich mehrere Rippen auf der linken Seite angeknackst. Oder vielleicht liegt es an jenem Druck, der auf dem seit Lauf 3 Tabellenführenden lastet, der pausenlos die Attacken von Red Bull KTM Ajo-Rookie und Teamkollegen Raul Fernandez abwehren musste. Seine Müdigkeit könnte aber auch daher rühren, dass auf ihm als Sohn des 500-cm3-Weltmeisters von 1987, Wayne Gardner, eine gewisse Erwartungshaltung lastet und er sein Ziel (den Moto2™-Titel) um jeden Preis erreichen will – ein Erfolg, der keinem seiner Vorgänger im Ajo-Team (Brad Binder und Miguel Oliveira) vergönnt war.

Der Australier, der fast sein gesamtes Leben in Katalonien verbracht hat (und beide Landessprachen perfekt spricht), sitzt mit versammelten Medienvertretern zusammen und versucht, zu erklären, wie ihm eine solch grandiose Moto2™-Saison gelungen ist. Es war sein 6. Jahr in der Klasse und sein erstes in den Farben von Red Bull KTM Ajo. Gardners Partnerschaft mit der ungemein erfolgreichen Crew von Aki Ajo – einem wichtigen Teil der KTM GP Academy zum Aufbau junger, vielversprechender Talente – dauerte nur ein Jahr. Noch bevor sein Titelgewinn in der mittleren Klasse feststand, schloss er für 2022 einen Vertrag mit dem Tech3 KTM Factory Racing-Team, und nächstes Jahr wird er in der MotoGP™ fahren.

Das Team von Aki Ajo war ein wichtiges Sprungbrett in der Vorbereitung auf die MotoGP™ 2022
PC @Rob Gray

Die Kombination aus Ajo, Gardner und Fernandez beherrschte in diesem Jahr die Moto2™ nach Belieben. Von insgesamt 18 Rennen gewannen die beiden Fahrer 13 und standen unglaubliche sieben Mal als 1. und 2. gemeinsam am Podest. Nur bei zwei Moto2™-Rennen schaffte es gar kein Red Bull KTM Ajo-Bike auf das Treppchen. Fernandez überzeugte mit seinem Speed, Gardner mit seiner Schlauheit und Konstanz. Fernandez stürzte in Deutschland, Großbritannien und in der Emilia Romagna, während Gardners Ausfall in Texas das Duell vor dem Rennen in Portimao, Portugal, noch einmal spannend machte. Gardner verletzte sich am Freitag, entschied sich für das Rennen am Sonntag (aber für andere Reifen als der Spanier) und errang damit seinen fünften Grand-Prix-Sieg und zwölften Podestplatz in überzeugender Manier.

Für Gardner ist es schon fast Normalität, sich gegen Widrigkeiten zu behaupten. Seine Familie brach auseinander, er versuchte mit Unterstützung seines Vaters, auf nicht konkurrenzfähigem Material Karriere zu machen, und war in der Moto3™ nicht gut aufgehoben. Bei einem Motocross-Trainingsunfall im Jahr 2018 brach er sich beide Beine, was ihn weit zurückwarf. Und als er 2019 auf dem Weg zu einem 15. Gesamtrang in der WM zum ersten Mal auf einem GP-Podium stand, hatte er bereits viele Rennkilometer abgespult, ohne wirklich von sich reden zu machen. Als er 2020 seinen ersten Grand Prix gewann und die Saison als Sechster beendete, wurde Aki Ajo auf ihn aufmerksam. Der Finne lernte den Australier kennen und entschied sich, der Nummer 87 eine Chance zu geben.

“Ich habe ganz klar gesagt, dass ich an ihn glaube und dass ich seinen Stil mag” – Akis erste Gedanken zu Remy Gardner
PC @Rob Gray

„Unsere ersten persönlichen Gespräche waren intensiv, hart und emotional“, erinnert sich Ajo am Sonntag in Valencia. „Wir haben nicht gestritten … waren aber unterschiedlicher Meinung. Ich sagte ihm ganz klar, dass ich an ihn glaube und seinen Stil mag, dass er aber an seiner Einstellung arbeiten muss, wenn er mit mir zusammenarbeiten will.“

„Er sprach von technischen Details, mir war das zu viel“, fährt er fort. „Er zweifelte an sich selbst, dachte, dass er zu schwer oder dass das Bike wegen diesem und jenem zu langsam sei. Bei unserem Gespräch schmetterte ich alle seine Bedenken ab, was ihn offensichtlich vor den Kopf stieß. Gleichzeitig wusste ich, dass dieser Bursche stark war: Er war emotional, aber auch einsichtig, und er war bereit, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Ich sah das damals als gutes Zeichen. Also integrierten wir ihn Schritt für Schritt in das Team und in seine neue Crew.“

Aki und Remy feiern den Moto2™-Weltmeistertitel
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Ajo bemühte sich, das Rennfahren so einfach wie möglich und die Erwartungen realistisch zu halten. Er folgte seinem Prinzip, rund um seine Fahrer eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie ihr gesamtes Potential entfalten und selbst Enttäuschungen noch in positive Erfahrungen verwandeln können. „Ich sage immer wieder zu meinen Fahrern, dass sie ohne diese Erfahrungen nicht da wären, wo sie heute sind – besonders zu Remy, wenn er nach einem Rennen an seine schwierigeren Zeiten zurückdenkt. Ich denke, dass schwierige Momente notwendig sind, wenn man ganz nach oben kommen und dort bleiben will.“

Auf der Jagd nach seinem zweiten Moto2™-Titel (dem ersten in Red Bull-Farben und für die KTM GP Academy) musste Ajo zwei ungehobelte und spektakuläre Talente unter einen Hut bringen. „Ich machte mir Sorgen, dass es zu Streitigkeiten kommen könnte, aber dann war alles leichter, als ich gedacht hatte“, lacht er. „Vielleicht hatten wir einfach nur Glück! Die beiden respektierten sich in der Box, auf der Strecke und auch abseits davon.“

Das Red Bull KTM Ajo-Duo geht in die letzten Rennen der Saison und kämpft um die Meisterschaftsführung
PC @Rob Gray

Remy über … 2021

Die Saison war auf jeden Fall intensiv. Raul war heuer extrem stark. Als Rookie machte er mir wirklich das Leben schwer. Dank unseres Teams konnten wir so viele Podestplätze erringen und großartige Rennen fahren. Es war eine fantastische Saison mit vielen unvergesslichen Momenten im Parc Fermes und vielen Trophäen. Manchmal dachte ich ‚das war ein schlechter Tag‘, wenn ich auf dem 2. Platz ins Ziel kam, aber man muss jeden Moment genießen. Im letzten Viertel der Saison legte Raul noch einmal zu und ich musste mich extrem anstrengen. Ich machte ein paar Fehler, und er fuhr sehr stark. Am Ende gewann ich den Titel durch Konstanz. Wenn ich nicht gewinnen konnte oder Raul ganz oben stand, konzentrierte ich mich darauf, so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Das verhalf uns schlussendlich zum Titel.

Remy Gardner holt einen von fünf Siegen im Jahr 2021
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Über … das Rennen in Valencia, den Neustart und die Nerven

Es fiel mir schwer, mich aggressiv auf dem Bike zu bewegen [aufgrund seiner Rippenverletzung]. Es ging darum, das Rennen zu beenden. Der Neustart sorgte für Chaos. Jeder hat sein Ritual, sich mental vorzubereiten, auf das Bike zu schwingen und alles zu geben. Ein Neustart bedeutet, dass du das alles noch einmal machen musst. Es war schwierig, konzentriert zu bleiben und nicht übers Ziel hinauszuschießen. Vor mir ging es chaotisch zu und ich wollte kein Risiko eingehen, also reihte ich mich am Ende der Gruppe ein und fuhr mein eigenes Rennen. Auf jeden Fall eine andere Strategie als bei den anderen Rennen des Jahres. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich hatte einen klaren Plan. Auch Aki half mir dabei, ruhig zu bleiben.

Gardner beim Saisonfinale des Gran Premio Motul de la Comunitat Valenciana in Spanien
PC @Rob Gray

Über … seine bisherige Karriere

Ich hatte ohne Zweifel viele schwierige Jahre … aber in diesem Jahr hat alles gepasst. Schon letztes Jahr änderte sich bei mir einiges und ich fing an, bessere Resultate einzufahren. Obwohl ich nicht die meisten Podiumsplätze erzielte, hatte ich mental alles unter Kontrolle und alles passte zusammen. Ich versuchte, eine positive Einstellung zu behalten. Die Jahre 2015 bis 2019 waren hart.

Es gab einige Punkte in meiner Karriere, an denen ich schon alles hinschmeißen wollte. Mich nach Verletzungen wieder aufzurappeln, war besonders schwierig. Bei meinem schlimmsten Unfall brach ich mir beide Beine. Außerdem waren mein Kopf und mein Rücken arg in Mitleidenschaft gezogen. Als ich, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, nach Hause fuhr, dachte ich: ‚Ich habe kein Motorrad und keine Resultate. Das war‘s mit meiner Karriere‘. Eines Tages spielte ich mit meiner PlayStation und dachte darüber nach, welche Möglichkeiten mir blieben. Ich könnte da herumsitzen und mich selbst bemitleiden oder aufstehen und wie ein Besessener kämpfen, bis ich tot umfalle. Und das tat ich dann auch. Ich richtete mich auf und ging acht Stunden am Tag zur Physiotherapie, bis ich ohnmächtig wurde. Ich wollte früher wieder gehen können, als es der Arzt prognostiziert hatte. Dieser hatte gemeint, dass ich wohl drei Monate im Rollstuhl verbringen würde. Ich aber watschelte bereits nach drei Wochen wieder wie ein Pinguin durchs Haus. Mein Mantra, niemals aufzugeben, zahlte sich offensichtlich aus.

Sein “Niemals-aufgeben Mantra” hat Remy im Laufe seiner Karriere durch viele Rückschläge gebracht
PC @Rob Gray

Über … den Druck

Viele Leute denken wohl, dass mir mit dem Nachnamen Gardner alles in die Wiege gelegt wurde. Tatsächlich aber war mein Weg alles andere als leicht. Nicht in persönlicher Hinsicht oder durch den Druck, der auf mir als ‚Sohn von Wayne‘ lastete, aber tatsächlich waren für mich als ‚Sohn von Wayne‘ viele Türen von vornherein geschlossen. Natürlich gab es andere, die sich öffneten, und mein Vater half mir in den frühen Phasen meiner Karriere tatkräftig. Ohne ihn hätte ich es nie geschafft.

Die letzten vier bis fünf Jahre gehen eher auf mein eigenes Konto. Sobald man in der Weltmeisterschaft fährt, ist man Profi-Sportler, wird vom Team bezahlt und arbeitet mit diesem zusammen. Und hier war ich gefordert: Ich musste lernen, mich verbessern und mit den anderen Leuten zusammenarbeiten. Im letzten Abschnitt dieser Saison war der Druck extrem hoch. In Misano regnete es und ich bekam eine zweifache Long-Lap-Strafe aufgebrummt. Trotzdem beendete ich das Rennen auf dem 7. Platz und das ist alles, was zählt. Ein paar wenige Punkte sind besser als gar keine Punkte und jede Runde hilft mir, Erfahrung zu sammeln. Man macht Fehler, lernt davon und macht weiter. Man lernt ein Leben lang. In Portimao hatte ich mein bisher bestes Rennen. Das war der Wendepunkt. Ich stand zu meiner Entscheidung für die harten Reifen und glaubte an mich selbst. Das war der Schlüssel.

Obwohl er unter großem Druck stand, hat Remy nie aufgehört an sich zu glauben
PC @Rob Gray

Über … seine Zukunft in der MotoGP™

Es scheint so, als ob das Niveau unter uns jüngeren Fahrern sehr hoch ist. In der letzten Zeit gab es viele verschiedene Rennsieger und Weltmeister. Den Titel zu gewinnen, ist ein Wahnsinn und hilft einem dabei zu verstehen, was man tun muss, wie man seine Emotionen zügelt, nur dann angreift, wenn es notwendig ist, und Punkte zu sammeln, wenn man nicht gewinnen kann. Meiner Meinung nach gibt es nichts Besseres als einen Titel, um zu lernen, wie man mit Druck umgeht. Hoffentlich gewöhne ich mich schnell an das MotoGP™-Bike. Ich muss viel lernen und mich in einer neuen Klasse zurechtfinden. Vor allem will ich Spaß haben und mich mit den großen Jungs messen. Ich kann es kaum erwarten.

Nach einer erfolgreichen Saison 2021 heißt es jetzt: Champagner und Feiern
PC @Rob Gray

Gardner steht auf und verlässt den Konferenzraum. Er trägt einen Helm mit spezieller Weltmeister-Grafik und ein weißes T-Shirt mit ebensolchem Aufdruck. Begleitet wird er von seiner treuen Freundin Clara und ihrer Familie. Ein Ziel wäre geschafft. Jetzt wartet eine ganz andere Herausforderung auf ihn. „Remy ist ein wirklich, wirklich netter Junge und wird immer einen Platz in meinem Herzen haben“, so Ajo. „Mit ihm zu arbeiten und zu sehen, wie hungrig er ist und wie viel er zu geben bereit ist, war eine Freude.“