MotoGP aus Expertensicht

Vor Kurzem sprachen wir mit Red Bull KTM-Teammitglied Joan Olivé über seine vielfältigen Aufgaben u.a. als Riding Coach. Jetzt wollten wir genauer wissen, wie der ehemalige Grand Prix-Fahrer den aktuellen Moto3-Piloten Brad Binder und Bo Bendsneyder an der Strecke mit Rat und Tat zur Seite steht. Was genau sieht und beobachtet der Spanier im Gegensatz zum Rest von uns – auch Motorradfahrer und Rennfans, die durch Zäune oder Bildschirme vom Renngeschehen getrennt sind?

Wir begleiteten Joan beim Training zum Frankreich-GP in Le Mans und baten ihn, uns ein paar Geheimnisse zu verraten. Wie sieht sein Coaching aus und was können auch wir Normalsterbliche beobachten, wenn das rote Licht ausgeht …?

Joan Olivé (ESP) Le Mans (FRA) 2016

Joan Olivé (ESP) Le Mans (FRA) 2016

Es ist beeindruckend, Grand Prix-Fahrer auf der Rennstrecke zu beobachten. Knie (manchmal sogar der Ellbogen) schleifen auf Asphalt, die Arme als Stütze, Gewichtsverlagerung, der Körper ist ausbalanciert und auf der Geraden schnell hinter die Verkleidung des Bikes ducken, um den Luftwiderstand zu minimieren. Gleichzeitig wirken sie aber auch irgendwie statisch; nur selten sieht man die actionreichen und ausdrucksstarken Fahrstil, den man im Motocross, Supercross, Offroad oder Trial beobachten kann. Jeder Fahrer hat seinen eigenen Stil, seine eigene Position auf dem Bike und schafft es, das Motorrad auf filigrane Weise, fast so als wäre es nur ein weiteres Körperteil, bei wahnsinnigen Geschwindigkeiten um die Strecke zu bewegen. Auf diesem Niveau – in der Moto3-Klasse der MotoGP-Motorradweltmeisterschaft – kann es also eigentlich nicht mehr viel geben, das gut trainierte und talentierte Athleten noch verbessern können. Oder doch?

„Ich beobachte Bo und Brad, spreche mit ihnen und ihren Chefmechanikern. Dann schauen wir gemeinsam in die Daten und meist unterstreichen sie das, was ich auf der Strecke gesehen habe. Ich schaue immer zuerst auf den Fahrer“, sagt Olivé.

„Dank der Chefmechaniker gibt es viele Infos, die ein Fahrer mit auf die Strecke nehmen kann. Dadurch gibt es auf einer Runde viele Möglichkeiten, sich zu verbessern. Die Fahrer in der MotoGP suchen immer genau nach diesem kleinen Extra, das den unterschied ausmachen kann. Viele haben jemanden an der Strecke, der ihnen folgt, sie beobachtet und auf Stärken und Schwächen achtet. Jeder Fahrer hat einen anderen Fahrstil und eine andere Position auf dem Bike. Diese Bandbreite macht es schwer zu vergleichen: einige fahren sehr sanft, andere sind eher aggressiv. Viel hängt vom Charakter des Fahrers ab und der ist meist schwer zu ändern. Den Fahrstil können die meisten umstellen, aber dafür findet jeder seinen eigenen Weg.“

„Bo und Brad haben beide eine gute Position auf dem Motorrad. Daran haben wir seit letztem Jahr gearbeitet, denn da haben beide noch weiter hinten gesessen“, sagt er, angesprochen auf seine spezielle Aufgabe bei KTM.

„Diese Saison haben wir weiter an der richtigen Position auf dem Motorrad gearbeitet. Für Bo, der ein bisschen größer ist, ist das nicht einfach und wahrscheinlich auch nicht besonders komfortabel, aber jetzt ist seine Position schon sehr gut. Es sind junge Fahrer und sie hören zu, das macht es einfach, mit ihnen zu arbeiten.“

Brad Binder (#41, RSA) & Bo Bendsneyder (#64, NED) KTM RC250 GP Le Mans (FRA) 2016

Brad Binder (#41, RSA) & Bo Bendsneyder (#64, NED) KTM RC250 GP Le Mans (FRA) 2016

Durch die enge Zusammenarbeite mit den Fahrern hat Joan Olivé eine wichtige Aufgabe im Red Bull KTM-Team. Der 31-Jährige hat mit Fahrern wir Sandro Cortese, Jack Miller und Miguel Oliveira gearbeitet und ist ein wichtiges Mitglied in Aki Ajos Moto3-Team. Seine Arbeit an der Strecke hilft den Fahrern bei der Weiterentwicklung.

Auf dem Rücksitz des Teamrollers fahren wir mit Joan (natürlich nicht zu schnell) zu verschiedenen Punkten an der berühmten Bugatti-Strecke. Während die Fahrer im freien Training ihre Runden drehen, verstehen wir kaum unsere eigenen Gedanken, geschweige denn, was Joan zu den Ereignissen auf der Strecke erklärt. Wir halten zunächst in Turn 3 – La Chapelle – eine schwierige, lange und abfallende Rechtskurve. Olivé: „Der Ausgang dieser Kurve ist sehr wichtig. Wir haben gesehen, dass die Fahrer zu weit in die abfallende Kurve gefahren sind und dadurch nicht rechtzeitig ans Gas gehen konnten. Es ist besser, weniger von der Kurve zu nutzen, um früher wieder Gas zu geben. Das ist wichtig, denn der Ausgang der Kurve steigt leicht an, das heißt, wenn du nicht rechtzeitig am Gas bist, verliert das Bike viel Geschwindigkeit.“

Wir beobachten die Moto3-Piloten einige Runden, während sie versuchen, den besten und schnellsten Weg in die Kurve und am Scheitelpunkt zu finden. „Die Jungs fahren eine gute Linie, aber Le Mans ist eine Strecke mit vielen ‘Winkeln’ und um das Bike zu stoppen, müssen sie härter bremsen; die Zeit zwischen dem Ende des Bremsvorgangs und Erreichen des Scheitelpunktes sollte so kurz wie möglich sein. Das heißt, sie müssen auch die Motorbremse und stärker die Hinterradbremse nutzen. Auf diesen Punkt habe ich mich in den Trainings konzentriert und wir haben versucht, ihn zu verbessern.“

Wir behalten Binder und besonders Bendsneyder im Auge. Wenn man das Zusammenspielt, Asphalt, Fahrer und Bike beobachtet, sieht man ziemlich schnell einen deutlichen Geschwindigkeitsunterschied und wer es richtig macht.

„Brad fährt viel mit der Hinterradbremse, das hilft, das Bike am Heck zu zentralisieren und bringt mehr Stabilität“, erklärt Olivé. „Er bremst das Bike innerhalb einer sehr kurzen Distanz an, beschleunigt aber auch wieder sehr schnell. Bo bremst vorne noch ein bisschen zu hart, belastet die Front, was die Stabilität negativ beeinflusst; daran müssen wir noch ein bisschen arbeiten.“

Joan Olivé (ESP) Le Mans (FRA) 2016

Joan Olivé (ESP) Le Mans (FRA) 2016

Zurück auf dem Roller fahren wir zur ‘Garage Vert’, eine enge, rechte Haarnadelkurve mit doppeltem Scheitelpunkt (tatsächlich hat die gesamte Strecke in Le Mans nur vier Linkskurven). Wie man es von einer Kurve erwartet, die eine der langsamsten im MotoGP-Kalender ist, ist sie technisch anspruchsvoll. „Ich schaue mir normalerweise die wichtigen Kurven an und das sind sehr oft gleichzeitig auch die schwierigsten. Wenn man es schafft, hier nur ein bisschen früher ans Gas zu gehen, dann ist das großartig für die Beschleunigung auf die Gerade.“

„Die Fahrer mit viel Erfahrung wissen, dass es besser ist, das Bike ein bisschen früher abzubremsen, um dann schneller aus der Kurve herausbeschleunigen zu können“, sagt Olivé. „Wenn du zu schnell in eine Kurve fährst, verlierst du unnötig Zeit und kannst nicht optimal ans Gas gehen. Um am Kurvenausgang zu gewinnen, muss man am Eingang manchmal etwas opfern.“

Je länger das Training dauert, desto mehr Fahrern gelingt es, schnelle Runden zu fahren. Ich frage mich, ob Olivé durch seine Beobachtungen im Training bestimmte Erwartungen ans Rennen hat. „An jedem Wochenende gibt es Fahrer, die mich überraschen“, antwortet er. „Manchmal kann man schon Freitagmorgen erkennen, wer am Wochenende schnell sein wird … auch die Einstellung der Fahrer kann man erkennen. Ein Fahrer aus dem Spitzenfeld, der bereits im ersten Training alles gibt, ist hochmotiviert für das Wochenende. Das ist leicht zu erkennen, denn dieser Fahrer wird viele seiner Kontrahenten überholen, nicht zurückschauen und sofort schnelle Zeiten fahren. Andere brauchen erst ein paar Runden, um sich auf die Strecke und die Bedingungen einzustellen.“

„Jeder Fahrer hat Strecken, die ihm mehr liegen als andere, aber auf Weltmeisterschaftsniveau muss man – egal unter welchen Bedingungen – ein kompletter Fahrer sein. Auf schwierigen Strecken wie Le Mans wird ein guter Fahrer das Rennen aus dem Vorjahr analysieren, welche Zeiten er gefahren ist, welche Fehler er gemacht hat und was er verbessern muss.“

Brad Binder (RSA) KTM RC250 GP Jerez (ESP) 2016

Brad Binder (RSA) KTM RC250 GP Jerez (ESP) 2016

Bei Brad Binders großartiger Leistung in Jerez, wo er nach einer Aufholjagd vom letzten auf den ersten Platz seinen ersten Karrieresieg feierte, gab es wahrscheinlich wenig zu beanstanden. „Bei Brad geht es nur darum, Kleinigkeiten zu verbessern. Auch bei guten Fahrern, gibt es noch Raum für Verbesserungen und wenn die Leistung grundsätzlich in Ordnung ist, fällt die Arbeit an den Details leichter; dann geht es darum hier noch ein bisschen später zu bremsen oder dort mehr zu pushen.“

Die jungen Fahrer profitieren von Ratschlägen, die Olivé während seiner langen Rennfahrerkarriere sammeln konnte. Während wir ins Fahrerlager zurückfahren, erzählt er uns von seinen eigenen Erfahrungen. „Eine meiner Stärken war das sehr späte Bremsen. Seit ich Rennen fahre, habe ich auch bei der Einfahrt in die Kurve immer stark die Hinterradbremse benutzt und ich habe den Fuß nie komplett von der Fußraste genommen. Es ist schwer, den eigenen Fahrstil zu ändern, aber in den meisten Fällen hilft es, wenn man das Problem anspricht und daran arbeitet.“

Die Bedeutung von Erfahrung darf man nicht unterschätzen, vor allem, wenn auch das kleinste Detail wertvolle Zehntel in der Rundenzeit ausmachen kann. Das nächste Mal, wenn die MotoGP wieder ihre Runden dreht, wissen die Zuschauer, dass alles, was die Fahrer und ihre Bikes tun, analysiert und präzisiert wurde, um perfekt aufeinander abgestimmt zu sein.

Fotos: CormacGP | KTM